Diese konzeptionelle Idee fußt auf Grundlagen, die in dem Konzept „Gesellschaftliches Engagement Benachteiligter in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit fördern (GEBe)“ seit 2012 im Projekt jungbewegt der Bertelsmann Stiftung entwickelt, erprobt und publiziert wurden (Sturzenhecker 2015b; Sturzenhecker und Schwerthelm 2015). Diese methodischen Orientierungen richten sich zunächst darauf, wie demokratisches Engagement, das Mitentscheiden und Mithandeln von Kindern und Jugendlichen in einer sozialpädagogischen Einrichtung – hier der Offenen Kinder- und Jugendarbeit – ermöglicht werden können. Das GEBe-Konzept bezieht sich auch auf parallel in jungbewegt entstandene Praxismodelle der Förderung von Demokratiebildung in der Kita (Knauer, Sturzenhecker und Hansen 2011; Hansen und Knauer 2015). Beide Konzepte weisen schon darauf hin, dass Demokratiebildung in Kita und Jugendarbeit sich nicht ausschließlich auf die eigenen Einrichtungen beschränken darf, sondern dass ein Übergang in die demokratische Kommune nötig ist. Dies war allerdings nicht der methodische Kern dieser Projekte, sondern der richtete sich auf die Demokratisierung der Binnenverhältnisse in den sozialpädagogischen Einrichtungen.
Als nächster Entwicklungsschritt wurde daher in einem Explorationsprojekt von jungbewegt in Kooperation mit dem Nachbarschaftsheim Schöneberg e. V. in Berlin erprobt, wie die Förderung gesellschaftlich-demokratischen Handelns von Kindern und Jugendlichen auch außerhalb der Einrichtung, nämlich in der Kommune, auf Basis der GEBe-Methode umgesetzt werden könnte. Dabei sollte der Fokus von der Offenen Jugendarbeit auf andere Felder der Kinder- und Jugendhilfe – besonders Kita, sozialpädagogische Arbeit an Ganztagsschulen, Jugendkulturarbeit, Familienbildung – erweitert und nicht mehr auf die Zielgruppe benachteiligte Kinder und Jugendliche begrenzt werden.
Im Folgenden gibt es noch einmal eine Kurzeinführung in die GEBe-Methode, da ihr Ausgangspunkt in der Wahrnehmung der alltäglichen beziehungsweise lebensweltlichen Themen und Interessen der Kinder und Jugendlichen liegt, auf die in der konzeptionellen Erweiterung zu KoKoDe aufgebaut wird. Danach werden die methodischen Grundideen von KoKoDe zunächst im Überblick erläutert und abschließend wird begründet, warum dieses Konzept für eine Demokratiebildung mit Kindern und Jugendlichen in der Jugendhilfe und in der Kommune relevant ist.
Von den lebensweltlichen Themen der Kinder und Jugendlichen ausgehen – Grundprinzipien der GEBe-Methode
Die methodischen GEBe-Vorschläge (Sturzenhecker 2015b; siehe zum Folgenden auch Sturzenhecker 2019) gehen von zwei wichtigen Annahmen aus: zum einen, dass menschliches Handeln immer gesellschaftliches Handeln ist, und zum anderen, dass pädagogische Einrichtungen als Gesellschaft im Kleinen (als „embryonic society“, Dewey 1907) angesehen werden können, in denen und von denen ausgehend gesellschaftlich-demokratisches Handeln angeeignet werden kann.
Die erste Annahme beruht auf theoretischen und empirischen Positionen, die Menschen als angewiesen auf Kooperation und Verständigung ansehen. Menschliche Lebensbewältigung funktioniert nur intersubjektiv, in Koordination und Kooperation zwischen den Beteiligten. Menschen können ihr Leben nur produzieren und reproduzieren, wenn sie zusammenarbeiten. Leben und Überleben von Menschen gestaltet sich somit in Gesellschaft. Menschen sind auf Kooperation (Tomasello 2010) angewiesen und müssen dazu kommunizieren. Solche Kommunikation erfolgt grundsätzlich als Verständigung über das, was gemeinsam gelten soll (Habermas 1981). Von Geburt an sind Menschen von den gesellschaftlichen und kulturellen Arten und Weisen der Gestaltung einer solchen Kooperation und Lebensbewältigung geprägt – und gleichzeitig doch auch fähig, diese wieder ihrerseits zu beeinflussen. Menschliches Handeln ist insofern immer gesellschaftliches Handeln, gekennzeichnet durch „Bestimmtsein“ und „Bestimmendsein“ (Seel 2014: 244), als beeinflusst werden und beeinflussend, geprägt werden und selbst prägend, als Teil-Sein (der passive Aspekt) und -nehmend (der aktive Aspekt).
Wenn aufeinander bezogenes Handeln so organisiert ist, dass die Einzelnen gleichrangig an öffentlichen Diskussionen und Entscheidungen zur Gestaltung des Gemeinsamen, des Politischen teilnehmen können, kann das als Demokratie bezeichnet werden (Richter et al. 2016: 121). Damit ist zunächst ein symbolisches Ideal von Demokratie formuliert, das in seinen Umsetzungsweisen weder festgelegt ist noch als Ideal je vollständig erreicht wird. Aktuell zeigt sich gerade, dass viele Menschen in demokratischen Staaten das Gefühl haben, nicht gleichrangig an öffentlichen Prozessen teilnehmen zu können, sondern ausgeschlossen zu sein. Das gilt besonders für Kinder und Jugendliche und unter ihnen noch einmal speziell für benachteiligte junge Menschen.
Man kann das als eine Entfremdung von Demokratie bezeichnen. Diese ist in der deutschen Bevölkerung weit verbreitet. Zwar stimmen laut der „Mitte-Studie“ (Decker, Kiess und Brähler 2016: 52) 94,2 Prozent der Bevölkerung „Demokratie als Idee“ zu, aber Brähler und Decker finden für 2010 (Brähler und Decker 2010: 98), dass etwa 94 Prozent der Befragten angeben; „Leute wie ich haben sowieso keinen Einfluss darauf, was die Regierung tut.“ Rund 90 Prozent sagen: „Ich halte es für sinnlos, mich politisch zu engagieren.“ Die Idee der Demokratie finden alle gut, aber Möglichkeiten, sich selbst daran zu beteiligen, sieht eine überwältigende Mehrheit nicht.
Die GEBe-Methode zielt nun darauf, dass das grundsätzliche Vermögen von Menschen, gesellschaftlich zu handeln und Konflikte auszuhandeln, auch für (benachteiligte) Kinder und Jugendliche konkret umsetzbar wird, diese also Möglichkeiten erhalten, sich aktiv mit ihren Positionen und Interessen in strittige gesellschaftliche Fragen einzumischen, mitzudiskutieren und Lösungen zu suchen, mitzuentscheiden und mit anderen Entscheidungsfolgen verantwortungsvoll zu tragen.
Die Bezeichnung von Kindern und Jugendlichen als Benachteiligte bezieht sich einerseits auf problematische Lebenslagen und begrenzte Ressourcen; andererseits nimmt sie damit aber auch eine generalisierende Zuschreibung vor, die riskant ist. Gerade aus Sicht des Demokratieideals gelten die Beteiligten nicht als defizitär, sondern als gleichberechtigt und fähig, sich gleichrangig in die demokratischen Debatten und Entscheidungen einzubringen. Auch von daher ist es problematisch, Kinder und Jugendliche auf die defizitorientierte Zuschreibung „benachteiligt“ zu reduzieren. Ziel des GEBe-Konzepts ist es allerdings zu ermöglichen, dass Kinder und Jugendliche trotz und jenseits ihrer Benachteiligung aktiv und fähig an Demokratie partizipieren können. Die Methode eignet sich in diesem Sinne für alle jungen Menschen, die gleichzeitig als different/ungleich und gleichberechtigt/gleich fähig thematisiert werden (zum Zusammenhang von Differenz und Demokratie siehe den Text von Plößer und Sturzenhecker im zweiten Teil dieses Bandes). Die GEBe-Methode als ausschließlich auf Benachteiligte zu reduzieren, wäre also nicht angemessen.
Die zweite Annahme des methodischen Ansatzes richtet sich darauf, wo und wie Menschen solche Erfahrungen der demokratischen Mitentscheidung und Mitverantwortung machen können. Das Konzept sieht zunächst die Möglichkeit, dass Kinder und Jugendliche schon ab frühestem Alter in ihren pädagogischen Einrichtungen als gleichrangige demokratische Mitentscheider*innen agieren können. Das ist der Fall, wenn man eine pädagogische Einrichtung als eine „embryonic society“ (Dewey 1907: 31 f.) versteht: als eine Gesellschaft im Kleinen, in der genau wie in der großen Gesellschaft die Ermöglichung und Bewältigung des gemeinsamen Lebens mit den Betroffenen zusammen entschieden und verantwortet werden kann. Wenn Kinder und Jugendliche in einem Jugendhaus, einer Kita oder in einer Ganztagsbetreuung handeln, tun sie das nicht privat, quasi isoliert von den anderen, sondern ihr Handeln erzeugt die Gesellschaft der pädagogischen Einrichtung mit, ebenso wie ihr Tun seinerseits davon beeinflusst wird. Daher setzt GEBe an diesem Handeln an und entdeckt darin die lebensweltlichen Themen der jungen Menschen, weil sich diese immer schon in ihrem Handeln in der „embryonic society“ ausdrücken.
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