Ich nahm mir Henrys Worte zu Herzen und ging es langsam an. Es war mein zweiter Tag und ich wollte an diesem Abend und allen folgenden nicht wieder so abgekämpft nach Hause taumeln, wie ich es gestern getan hatte. Man hatte mich hierher gebracht in der Annahme, in einer Bibliothek zu arbeiten und nicht, die Sklavin für einen verrückten Bibliothekar zu sein. Ich wollte nicht auf seine Meinung angewiesen sein. Ich würde tun, was ich konnte, mich nicht länger aus der Ruhe bringen lassen und schließlich dadurch beweisen, dass ich eine vollwertige Erwachsene war.
Was sollte er auch machen, außer mich weiter mit arroganten Blicken und gemeinen Kommentaren zu bedenken. Rauswerfen konnte er mich nicht. Zumindest nicht innerhalb des nächsten Monats, dafür hatte Onkel Alfred gesorgt.
Trotz allem bewältigte ich in den nächsten Stunden weit mehr, als ich mir anfangs zugetraut hatte. Bevor ich ging, sortierte ich die Bücher so, dass sie einer Ordnung folgten und ich morgen weniger zu suchen hatte. Dann schraubte ich das Tintenfass zu, klopfte mir den Staub aus dem dunklen Stoff meines Rockes und verließ die Kammer aufgeräumter, als ich sie anfangs vorgefunden hatte.
Mr Reed fand ich im großen, runden Lesesaal vor. Er redete leise mit einem Mann, der noch Mantel und Hut trug und der sich nach wenigen Augenblicken auch schon wieder verabschiedete. Ich nahm die Gelegenheit wahr, mich bei dem Bibliothekar noch einmal zu zeigen, damit er wusste, dass ich pünktlich gehen würde und nicht schon vorher abgehauen war.
»Miss Crumb«, sagte er, als er mich auf sich zukommen sah. Er wirkte nicht gerade erfreut. Seine Augenbrauen waren düster zusammengezogen, die Stirn voller bösartiger Falten. Und auch wenn ich sah, dass er sich um einen neutralen Gesichtsausdruck bemühte, gelang ihm das kaum.
»Mr Reed«, erwiderte ich und fragte mich unwillkürlich, was ich wohl angestellt hatte, da schnaubte er plötzlich, nahm die Brille ab und rieb sich mit zwei Fingern die Nasenwurzel.
»Verzeihen Sie meine Aufgebrachtheit. Der Gentleman gerade hat meine Nerven strapaziert«, gab er ganz offen zu und setzte sich die Brille wieder auf. »Wie kann ich Ihnen helfen?«, erkundigte er sich mit einem Seufzen und zwang sich sogar zu einem schmalen Lächeln.
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, dass er auf einmal anfing, mir eine gewisse Art von Entgegenkommen zu zeigen. War das eine Finte, um mich erneut zu beleidigen, oder hatte er sich wirklich besonnen und begann tatsächlich, mehr Höflichkeit an den Tag zu legen?
Ich schätzte nicht, dass ich es gewesen war, die diese Veränderung hervorgerufen hatte, indem ich ihn seiner schlechten Manieren wegen rügte. Vielleicht lag es ja an dem Gentleman, der soeben gegangen war und der Mr Reed so viele Nerven gekostet hatte, dass ich dagegen lediglich das kleinere Übel zu sein schien.
»Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass ich jetzt gehe«, sagte ich leise und mit so sanfter Stimme, wie ich imstande war. Ich wusste nicht warum, aber aus irgendeinem Grund wollte ich ihn jetzt nicht noch mehr provozieren.
Mr Reed sah mich überrascht an und sein Kopf drehte sich der Uhr im Foyer zu.
Mein Blick folgte dem seinen. Es war bereits zwölf Minuten nach fünf.
»Oh, schon so spät. Gut, ähm … gut«, meinte er etwas fahrig und tastete seine Jackentaschen ab, als würde er nach etwas suchen, nur um die Hände nach einem kurzen Kopfschütteln wieder sinken zu lassen.
Dieser Mann mit Mantel und Hut musste ihn wirklich äußerst aufgewühlt haben, dass er jetzt so kopflos war.
»Noch eine Bitte«, brachte ich seine Aufmerksamkeit wieder auf mich zurück und er sah mich durch die Brillengläser an, die seine Augen ein wenig größer erscheinen ließen, als sie wirklich waren. »Morgen müssen Sie mir Ihre Suchmaschine zeigen. Denn ich bin leider ratlos, wozu Schlagwörter gut sein sollen«, legte ich ihm vor und er nickte.
»Morgen?«, wiederholte er, als ob es ihm immer noch völlig unsinnig vorkam, dass ich wirklich vorhatte, morgen wiederzukommen.
»Ja, morgen«, bestätigte ich und machte einen leichten Knicks. »Guten Abend.«
»Guten Abend, Miss Crumb«, wünschte er auch mir, die Verwirrung auf die Stirn geschrieben, und ich ging mit einem Lächeln. Denn diesmal hatte ich gewonnen.
Zu Hause angekommen, hatte ich eine ganz bestimmte Vorstellung davon gehabt, wie ich meinen Abend verbringen würde. Und zwar in meinem Sessel mit einem Buch.
Mein Kopf sehnte sich nach Zerstreuung, meine Seele nach einer guten Geschichte und mein Körper nach den ausgeleierten Sitzfedern meines Sessels, den Tante Lillian sogar im Salon duldete.
Doch meine Tante hatte bereits andere Pläne gemacht. Sie servierte mir einen späten Tee und etwas Gebäck, nur um mir dann ganz schwärmerisch von einer kleinen Soiree zu erzählen, zu der sie heute früh ganz kurzfristig eingeladen worden war, weil sie eine alte Freundin in der Stadt getroffen hatte. »Sie wusste nicht einmal, dass ich hier wohne. Ist das zu fassen? So lange hatten wir uns schon nicht mehr gesehen«, erzählte sie mit einem Lachen in der Stimme und einem glückseligen Blick. »Du wirst doch mitkommen, Ani, oder?«, meinte sie dann plötzlich und ich verschluckte mich beinahe an meinem Tee. Ein Husten unterdrückend, räusperte ich mich, um meine Überraschung zu überspielen.
»Ich denke nicht, dass es für mich nach diesem langen Tag ratsam ist, noch unter Leute zu gehen.«
»Papperlapapp«, machte meine Tante mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Das wird eine ganz kleine Veranstaltung. Nur ein wenig Essen, herumsitzen und Klaviermusik lauschen«, versuchte sie mich zu locken und sah mich dabei flehend an. »Bitte, Ani. Alfred hat sich noch einen Tag entschuldigen lassen, weil seine Geschäfte länger dauern, und ich will da auf keinen Fall allein aufschlagen«, bettelte sie und ich seufzte im Stillen.
Meiner Mutter hätte ich diesen Gefallen wahrscheinlich nicht getan. Aber bei Tante Lillian wurde ich schnell weich. Erstens, weil sie den flehenden Blick ausgezeichnet beherrschte, zweitens, weil ich mich ihr gegenüber schuldig fühlte, da ich in ihrem Haus wohnen durfte, und drittens, weil ich Klaviermusik wirklich sehr liebte.
Mein eigenes Spiel war mittelmäßig bis dürftig, wahrscheinlich, weil ich mehr über Klaviere gelesen hatte, als sie zu spielen, aber es gab für mich nichts Angenehmeres, als einem guten Stück zu lauschen, während ich in der Welt eines Buches versank.
Vielleicht hatte meine Tante ja auch recht und der Kreis an Leuten wäre so klein, dass man gemeinsam am Kamin saß, sich ein wenig austauschte, einen afternoon tea trank, während eine der Damen ihre Künste an den Tasten mit uns teilte. Und ich konnte dabei ein bisschen lesen. Was machte es schon, ob ich hier oder dort las.
»Na gut«, gab ich mich also geschlagen und das Gesicht meiner Tante hellte sich augenblicklich auf.
»Danke, Ani!«, rief sie freudestrahlend, während sie sich von ihrem Stuhl erhob, und grinste dann schelmisch. »Ich habe dir sogar schon ein Kleid rausgelegt«, teilte sie mir mit und eilte dann aus dem Zimmer.
Zwei Stunden später konnte ich kaum glauben, wie ich mich nur so hatte austricksen lassen können. Der große Raum war voller Leute, viel mehr als eine kleine oder auch nur eine mittlere Abendgesellschaft. Bei uns auf dem Land kam eine so große Anzahl Menschen nur zu einem Ball zusammen.
Aber wahrscheinlich war das mal wieder ein Unterschied zwischen hier und dort. Hier galt dies als ›kleine Abendgesellschaft‹ und ich wünschte mich weit, weit weg.
Gemeinsam hatten wir den Raum betreten, dessen Fülle an lauten Gesprächen mich beinahe erschlagen hatte, und nicht einmal fünf Minuten später stellte Tante Lillian mir auch schon ihre liebe, alte Freundin Mrs Glenwood vor, mit der sie dann nach zwei, drei gewechselten Sätzen in der Menge verschwand.
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