Die Bürger der Stadt hatten damit begonnen, ihre Toten zu begraben, in riesigen, offenen Gräbern. Von diesem Moment an wusste Adar, dass sie keine Gnade erfahren würden. Es war schändlich, die Leiber auf diese Art zu bestatten. Seit Jahrhunderten – nein, Jahrtausenden – wurden ihre Toten in die »Türme der Stille« gebettet, wo ihre Seelen ungestört in den Himmel hinauffahren konnten, während ihr Fleisch von den Aasgeiern verzehrt wurde, den gleichen Aasgeiern, die nun ihrer Nahrung beraubt über ihm kreisten.
Er passierte das Tor, dann trieb er sein Pferd zum Galopp an. Er war ein alter Mann und nun war er auf der Flucht. Er floh vor etwas, von dem er wusste, dass er ihm nie entkommen würde. Dem Zorn der Götter …
Eine archäologische Ausgrabungsstätte, Elburs-Gebirge, Iran, 13. September, heute
Er hatte das Böse an diesem Ort vom ersten Moment an spüren können, als er hier eingetroffen war. Etwas Greifbares, etwas, das man beinahe riechen konnte.
Und nun hatte es sich in dem Leichnam des jungen Mannes zu seinen Füßen zu erkennen gegeben. Ein junger Mann? Eher fast noch ein Kind. Einer der College-Studenten, die ihm in dieses gottverlassene Land gefolgt waren, weil sie die Chance ihres Lebens witterten. Die Chance ihres Lebens …
Der Israeli richtete sich auf und drehte sich zu den wenigen Übriggebliebenen um. »Er ist tot«, verkündete er nüchtern das Offensichtliche.
»Wieso – ich meine, was ist passiert?«
Er sah in die hellgrünen Augen der jungen Frau vor ihm, Augen, in denen jetzt Tränen standen. Sie war kurz davor zusammenzubrechen. Wie sie alle. Irgendwie musste er sie zusammenhalten. Irgendwie …
»Ich habe keine Ahnung, Rachel«, antwortete er. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Wie ist es mit dir, Grant?«
Der achtundfünfzigjährige Geschichtsprofessor aus Princeton schüttelte den Kopf. »So etwas habe ich noch nie gesehen.« Er schwieg für einen Moment. »Wo sind die anderen, Dr. Tal?«
Moshe Tal antwortete ihm nicht sofort. Sein Verstand versuchte noch immer zu sortieren, was sie an diesen Punkt gebracht hatte. Die Jahre harter Arbeit in Israel, an anderen Projekten – Hazor, Masada, Baalbek. Lauter Fußnoten in seinem Leben, auf dem Weg, der ihn hierher geführt hatte. Unbedeutend, verglichen mit dieser Entdeckung.
Rhodaspes, die Königin des Ostens – eine Stadt, deren Bergfeste unglaubliche Reichtümer barg, ein persisches Petra.
Rhodaspes, die Uneinnehmbare, obwohl sie sogar für kurze Zeit von niemand Geringerem als Alexander dem Großen auf seinem Weg nach Indien belagert worden war.
Rhodaspes, eine Stadt, die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts verlassen wurde, urplötzlich und auf mysteriöse Weise, als hätte Gott persönlich ihre Bewohner in alle Winde verstreut. Die einheimischen Farsi hielten diesen Ort für verflucht. Niemand wusste wieso. Es war, als …
»Ich fragte, wo sind die anderen, Dr. Tal?«
Grant Petersons Stimme holte ihn in die Realität zurück. In das gegenwärtige Dunkel.
Wortlos deutete Moshe den Gebirgspfad hinunter zu dem Massengrab, dort, wo alles seinen Anfang genommen hatte. Über dessen Rand konnte man einige der starren Körper hinausragen sehen. Die Leichen der restlichen Archäologen.
Er hätte es von jenem Moment an wissen müssen, als sie auf das Grab stießen. Sie hätten es als ein Omen für das Böse ansehen sollen, welches dem Fund folgen sollte.
Die Bewohner von Rhodaspes begruben ihre Toten nicht. Sie waren Zoroastrier und für sie stellte ein solcher Brauch eine Schändlichkeit dar. Ganz zu schweigen von einem Massen grab.
Ihn schauderte. Wenn er nichts unternahm, würde sein Team ihnen bald Gesellschaft leisten. Er drehte sich zu dem jungen Mann neben sich um, dem letzten noch lebenden Collegestudenten. »Häng' dich ans Funkgerät, Joel. Wir müssen Teheran benachrichtigen.«
Joel Mullins schluckte nervös. »In Ordnung«, erwiderte er, froh, etwas zu tun zu haben. »Schon unterwegs.«
Moshe kehrte in sein Zelt zurück. Ihm blieb keine andere Wahl. Er musste nun schnell handeln, bevor er zu geschwächt sein würde und bevor die Iraner hier eintreffen und die Wahrheit herausfinden würden …
14. September, Cancún, Mexiko
Es war fünf Minuten nach Mitternacht, als Angelo Calderon aus dem Nachtklub trat, den er besucht hatte. Das Wetter war wie vorhergesagt, mit einer leichten Brise, die vom Meer heranwehte und die Nacht auf warme 24 Grad abkühlte. Ihm blieben noch drei Minuten zu leben.
Perfekt , dachte der Mann, der im Schatten neben dem Parkplatz lauerte und ihn beobachtete. Der Drogenbaron wurde von zwei Leibwächtern flankiert, die beide halbautomatische Pistolen in Holstern an ihren Hüften bei sich trugen. Calderon würde zweifellos ebenfalls bewaffnet sein. Er klappte das kompakte Nachtsichtgerät zusammen, steckte es in eine der Innentaschen seiner Jacke und folgte ihm, wie ein Jäger seiner Beute.
Calderon atmete tief die frische Meeresluft ein, ließ sich von ihr durchdringen. Noch achtundvierzig Stunden und der Deal wäre unter Dach und Fach. Jetzt konnte ihn nichts mehr aufhalten. Vor fünf Jahren war sein ältester Sohn von Agenten der U.S.-Border-Patrol getötet worden, die mit den Federales zusammengearbeitet hatten. Jetzt war die Zeit für seine Rache gekommen.
Junge Menschen, darunter viele in Strandkostümen, huschten um ihn herum, während seine Leibwächter sich durch die Menschenmenge drängten. Die Zahl der Touristen hatte in den letzten Wochen zugenommen, da bereits die Vorbereitungen für El Grito , den Feierlichkeiten für den Unabhängigkeitstag am sechzehnten September, in vollem Gange waren. Es schien ihm passend zu sein, dass dieser Deal an einem solchen Tag vollzogen werden würde. So würde sich die Geschichte auch an ihn erinnern. Vielleicht nicht auf die gleiche Art wie an Miguel Hidalgo y Costilla, jenen Priester, der 1810 die Revolte gegen die spanischen Unterdrücker auslöste, aber auch er würde nicht vergessen werden.
Ein paar hübsche amerikanische Mädchen fielen ihm ins Auge und er lächelte ihnen zu, als sie an ihm vorbeiliefen. Mit neunundvierzig sah Calderon noch erstaunlich gut aus, und das wusste er auch.
Den dunkelhaarigen Mann, der sich seinen Weg durch die Menge auf ihn und seine Leibwächter zu bahnte, bekam er nicht zu Gesicht, ebenso wenig die schallgedämpfte halb automatische Pistole, die plötzlich in dessen Hand erschien.
Das Hohlmantelgeschoss der .45er durchschlug Calderons rechte Schläfe und tötete ihn, noch bevor ein Schrei seine Lippen verlassen konnte. Eines der Mädchen in seiner Nähe begann zu kreischen. Alarmiert wirbelten seine Leibwächter herum, die Augen vor Schreck weit aufgerissen, als sie ihren Auftraggeber tot auf dem Asphalt liegen sahen, aus dessen Schädel Blut sickerte. Dann brach einer von ihnen zusammen, von einem Schuss mitten ins Herz.
Die Menge stob wie ein Haufen aufgeschreckter Hühner auseinander. Panik machte sich breit, ein uralter Instinkt, sich in Sicherheit zu bringen. Der zweite Leibwächter griff nach der Sig-Sauer an seiner Hüfte, war aber tot, bevor er die Waffe überhaupt herausziehen konnte.
Drei Leichen auf dem Bürgersteig.
Der Attentäter drehte sich um, stopfte sich seine Colt in den Hosenbund und zog das lose sitzende Sporthemd aus seiner Hose, um sie darunter zu verstecken. Dann lief er gelassen durch die Menge zurück und lauschte den Stimmen der Menschen, die lautstark nach der Polizei riefen.
Mit schneller werdenden Schritten entfernte er sich immer weiter aus dem unmittelbaren Gebiet um den Nachtklub. Während er den Gehsteig entlanglief, raste die Policia mit Blaulicht und Sirenen an ihm vorbei. Bei ihrem Anblick huschte ein verstohlenes, amüsiertes Lächeln über sein Gesicht.
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