Einmal fiel Laila eine Fotografie ihres Vaters in die Hände, eines jungen, fast nicht wiederzuerkennenden Mannes an Bord eines Segelboots. »Das war einmal meins«, sagte er auf ihre Frage hin. »Auf einer Segelfahrt mit diesem Boot habe ich deine Mutter kennengelernt. Bei der Killingen-Insel. Sie war Paddeln mit Ritas Kajak. Ich habe sie gefragt, ob sie mich auf eine Weltumseglung begleiten will.« Ihr Vater lachte, wirkte dabei aber auch ein wenig verlegen. Vielleicht weil er dachte, Bjørg sei nie irgendwo anders gesegelt außer durch sich selbst, in einem weißen Zimmer in Gaustad. Als sie von Skillebekk weggezogen waren, hatte er das Boot verkauft. Laila begriff, dass ihr Vater einen Verzicht geleistet, einer Möglichkeit entsagt hatte. Dass er vielleicht ein anderes Leben gelebt haben könnte, ein anderes als das, in dem er Tonbandgeräte für Vebjørn Tandberg konstruierte.
Laila hatte nicht verstanden, was mit ihrer Mutter nicht stimmte. Sowohl zu Hause als auch in dem Zimmer in Gaustad verbrachte sie mitunter viel Zeit damit, ihre Mutter zu beobachten, die auf einem Stuhl saß und aus dem Fenster starrte, auf eine Aussicht, die sie ganz offensichtlich nicht interessierte. Oder sie hielt ihre Augen auf die kleine Märklin-Lokomotive gerichtet, die sie auf die Fensterbank gestellt hatte und die ihr anscheinend Trost spendete. Manchmal hatte sie einen kleinen Geigenkasten auf dem Schoß liegen, fast wie eine Puppe. Nur selten war sie geringfügig anwesender, und dann sprach sie auch ein paar Sätze, wenn sie im Gemeinschaftsraum saßen oder im Erker, wo sie ihre Blue-Master-Zigaretten rauchen durfte, oder sie erzählte etwas bei einem Spaziergang in den Laubengängen zwischen den Gebäuden. Mitunter las sie Laila eines der Gedichte vor, die sie geschrieben hatte. Denn wenn sie überhaupt etwas tat, dann schreiben, Gedichte schreiben. Als Laila und Bård noch klein waren, hatte sie ihnen oft vorgelesen. Hauptsächlich Lyrik. Die Texte anderer. Von Rita hatte sie die Anthologie mit persischen Gedichten übernommen, ein wunderschönes, gebundenes Buch, das Rita von einem gewissen Mr. Carlton bekommen hatte. »Dieses Buch ist in Persien gewesen«, flüsterte sie Laila zu, »es ist mit der Eisenbahn gefahren.« Viele dieser für Laila unergründlichen Gedichte konnte ihre Mutter auswendig, auf Englisch. Als sie noch Kinder waren, hatte sie ihnen manchmal vorgesungen. Kirchenlieder. Oder Lieder in der mystischen neunorwegischen Sprache. Auch das eine oder andere deutsche, von Schubert oder Schumann, oder wie sie alle hießen.
Erst als sie älter wurde, bekam Laila mehr darüber zu hören. Nicht nur über die beiden Brüder ihrer Mutter, Harald und Sigurd, die im Krieg gestorben waren, sondern auch von ihrer Trauer über den Verlust ihrer Freundin. Nach allem, was Laila verstand, war ihre Mutter nach Esthers Verschwinden nicht mehr dieselbe wie früher. Bjørg hatte von den Verhaftungen jüdischer Frauen und Kinder im Morgengrauen des 26. November 1942 gehört. Sie hatte Lorang gebeten, nicht in die Arbeit zu gehen, damit er auf Laila aufpassen konnte, und war zu Esthers Versteck gelaufen. Aber es war zu spät. Jemand hatte Esther denunziert. Nur der Geigenkasten war noch da. Bjørg war auf der Brücke gestanden, als die Juden an Bord der »Donau« zusammengepfercht wurden, bevor das Schiff noch am selben Nachmittag nach Stettin ablegte, eine Zwischenstation vor der letzten Etappe nach Auschwitz.
Lailas Poesiealbum blieb leer, abgesehen von Tante Mauds Eintrag. Das heißt, sie konnte einen widerwilligen Bård dazu bewegen, einen Vers hineinzukritzeln, den sie ihm selbst diktierte. Ihr Vater schrieb einen Gruß hinein. Erst als sie als Erwachsene wieder in dem Album blätterte, sah sie, dass er »Lev Selv« (»Leb dein eigenes Leben«) geschrieben hatte. Als Kreuz. Eines Tages, als sie das Album mit in die Klinik nahm, schrieb ihre Mutter eines ihrer Gedichte hinein, mit Füllfeder und in einer so schönen Handschrift, dass Laila der Mund offenstand. Danach starrte ihre Mutter die Füllfeder an, als handle es sich um ein kleines Raumschiff, ein Gefährt, das sie auf Reisen zu fernen Planeten mitnehmen konnte. Manchmal dachte Laila, dass es ihrer Mutter gut gehe, alles in Ordnung mit ihr sei, solange sie nur in sich selbst verbleiben konnte. Dass Gaustad für sie dasselbe war wie das Schneckenhaus für den Einsiedlerkrebs.
In diesen Jahren wohnte Laila oft bei ihrer Großmutter. Damals bedurfte sie sehr stark jener Qualität Rita Bohres, die wir als ihre bedeutendste erachten: die Fähigkeit, den Menschen Lebensmut einzuflößen – eine Fähigkeit, die von den Gründern der Long-Dynastie gūwū genannt wurde und der sie ganz besondere Hochachtung entgegenbrachten. In regelmäßigen Abständen nahm Rita Lailas Kopf zwischen ihre Hände und sagte: »Nichts ist wie ein kleines Mädchen«, um sie dann auf die Stirn zu küssen, bevor sie hinzufügte: »das noch sein ganzes Leben vor sich hat.« Für sie war es ein Trost, draußen in Lysaker mit Rita Bohre zusammen zu sein, in dem großen Haus, mit der Eiche wie ein Filter zwischen Terrasse und Fjord, ein Baum, in dem sie auch kletterte, hoch oben auf allen Ästen, die ihr Gewicht trugen. Wer brauchte schon Freundinnen, wenn man hier sein konnte, wenn man im Garten auf den Grünflächen umherlaufen, alle Räume der Villa erforschen oder sich mit seiner Großmutter unterhalten konnte, während sie an ihren Fossilien herumwerkelte, oder mit Dagny, der Haushälterin, die Laila an ihren täglichen Verrichtungen teilhaben ließ, oder wenn man einigen der sonderbaren Menschen aus der Nachbarschaft begegnete. Doch dann, im Alter von zwölf Jahren, passierte etwas mit Laila. Es war, als sei die Schläfrigkeit von ihr abgefallen und sie habe sich aufgerichtet, verwandelt. Sie lächelte öfter. Ein vorsichtiges, schiefes Lächeln. Ihr fiel auf, wie die Leute sie heimlich ansahen. Nicht weil sie schön war, sondern weil ihr Gesicht aus irgendeinem Grund Neugier in ihnen weckte.
Zu der Zeit fragte einer von Ritas jüngeren Lysaker-Freunden, ein Künstler, ob er Laila malen dürfe. Rita hatte ihn bereits damals kennengelernt, als sie an der vieldiskutierten Zeitschrift Neon mitgewirkt hatte. Laila spielte manchmal mit einem seiner Söhne, und so kam es, dass Rita Laila eines Nachmittags im Frühherbst an nach reifem Obst und Beeren duftenden Gärten vorbei hinunter zum Strandveien begleitete, zu dem weißen Haus, wo der Maler, in kariertem Hemd, ihnen die Tür öffnete und sie in sein Wohnzimmer hereinbat.
Was Laila von diesem Nachmittag am besten in Erinnerung geblieben war – zusätzlich zu dem schönen Kachelofen –, war die Art und Weise, wie der Maler, der Kai Fjell hieß, an dem Tisch beim Fenster gesessen und sie gemustert hatte. Als versuchte er, ihre Persönlichkeit aus ihr herauszulocken. Nur ein einziges Mal sollte sie später einem Mann mit einem so prüfenden Blick begegnen. Still saß sie auf dem Stuhl, während sie den Bleistift über das Papier streichen hörte. Er war lange beschäftigt, fing immer wieder von vorn an, während er mit stechendem Blick abwechselnd sie und das Papier betrachtete. Als Rita, die in den Garten hinausgegangen war, wieder hereinkam, warf der Maler ihr einen Blick zu und vollführte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich kriege es nicht hin«, sagte er und lachte. »Ich weiß nicht, woran es liegt. Sie hat ein Geheimnis, das ich nicht einfangen kann. Vielleicht weil es erst zur Hälfte entfaltet ist.«
Laila bekam seinen letzten Entwurf zu sehen. Die Zeichnung wies eine so frappante Ähnlichkeit mit ihr auf, dass sie einen kurzen Schrei ausstieß. Das heißt, die wenigen Striche förderten in ihrem Gesicht etwas zutage, das sie davor im Spiegel noch nie bemerkt hatte. Sie dachte: Sehe ich mich jetzt vielleicht zum ersten Mal? Doch Kai Fjell war nicht zufrieden. »Du hast eine Gabe«, sagte er. »Eine Form der Schönheit, die so selten ist, dass sie fast unsichtbar ist.« Während er das sagte, strich er ihr auf dieselbe, tröstende Weise durchs Haar wie ihr Vater.
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