Caroline Dänzer - Der Schlüssel zur Tragödie

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Der Jesuit Jakob Balde (1604–1668), der «deutsche Horaz», ist als einer der bedeutendsten Lyriker der Frühen Neuzeit bekannt. Wenig Beachtung hat man hingegen seinem vielfältigen dramatischen Werk geschenkt, dem sich der vorliegende Band widmet. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht ein Kernelement der dramatischen Technik Baldes: Der tragische Chor. Baldes Chor entsteht aus der selbstbewussten intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Chor der senecanischen Tragödien, für dessen Funktion eine Neubestimmung vorgeschlagen wird. Damit bietet der Band grundlegende Einsichten in das dramatische Schaffen zweier unterschätzter Tragiker: Seneca und Balde.

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Insgesamt ist es schwierig, sich dieser Problematik zu nähern, da Seneca selbst nirgends Hinweise auf die Deutung seiner Tragödien gibt und so keinerlei externe Hilfestellung bietet, um die Stücke besser zu verstehen. Allerdings steht dies nicht im Widerspruch zu einer philosophisch-didaktischen Intention Senecas. Wiener legt dar, dass die senecanischen Tragödien nicht dazu gedacht seien, konkrete Inhalte zu lehren, sondern eine Sichtweise auf eine sehr viel komplexere Welt zu ermöglichen und somit vielschichtigere Fragestellungen zu präsentieren, als es in Senecas philosophischen Traktaten der Fall sei.31 Die Tragödien seien ein multidimensionales System, das eine große Fülle an Demonstrations- und Exemplifikationsmöglichkeiten bietet. Problematisch sei jedoch die Frage, wie Seneca sichergehen könne, dass der Leser die erwünschten Schlüsse ziehe.32

Hierfür hat Seneca den Dramen einen stückimmanenten Überbau beigegeben, der die Komplexität des Stückes vereinfacht und es dem Rezipienten ermöglicht, den Argumentationsverlauf der Tragödie und damit ihre Interpretation selbst zu erschließen. Es handelt sich hierbei um einen Part, dessen Funktion mindestens genauso umstritten ist wie die Tragödien selbst: die Chorlieder.

2. Die verschiedenen Deutungen der Chorlieder

Trotz manifester Probleme und ihrer noch immer strittigen Funktionsweise werden die Chorlieder in aktueller Forschungsliteratur oft einfach übergangen. So fehlen Untersuchungen zum Chor sowohl im aktuellen Brill’s Companion to Roman Tragedy 1 als auch im Cambridge Companion to Seneca ..2 Die wichtigsten Deutungsrichtungen seien an dieser Stelle exemplarisch umrissen. Leos Stigmatisierung der Lieder als Zwischenaktspiele3 und damit die Degradierung hin zu reinen ἐμβόλιμα wird inzwischen von der Forschung weitgehend abgelehnt. Ein Handlungsbezug wird vor allem auf der Ebene einer inhaltlich-thematischen Beziehung gesucht.4 Hierbei lassen sich verschiedene Kategorien klassifizieren, die Hand in Hand mit den Deutungsversuchen der Tragödien insgesamt gehen: Besonders häufig werden die Chorlieder als Ausdrucksmittel von philosophischen Haltungen gesehen.5 Ferner werden politische Elemente herausgearbeitet, um die Annahme zu stützen, die Tragödien seien dazu bestimmt, die „politische pravitas “6 aufzuzeigen. Neben diesen inhaltlichen Zuordnungen finden sich Interpreten, die im senecanischen Chor vor allem ein technisches Element sehen wollten, das beispielsweise Zeit für Kostümwechsel ermögliche7 oder der reinen Unterhaltung diene.8 Einige Analysen konzentrieren sich auf die Metrik, die jedoch sehr mechanisch und wenig auf ihre Bedeutung untersucht wird.9 Bisweilen werden die Chorpassagen als Redeteile gesehen und tragen somit der Meinung Rechnung, die Tragödien hätten vor allem rhetorischen Charakter.10

Dass politische und philosophische Ebenen in die Chorlieder eingebettet und nicht einfach voneinander zu trennen sind, ist inzwischen hinreichend erwiesen.11 Strittiger ist, in welchem konkreten Zusammenhang die Chorlieder zur Aussage der gesamten Tragödie stehen und nach welchem System sie funktionieren. Als problematisch wird hier vor allem die Tatsache bewertet, dass der Inhalt der Chorlieder oft widersprüchlich erscheint, sei es, dass einzelne Lieder konträre Positionen verträten oder dass sich diese nicht mit der dramatischen Handlung vereinbaren ließen. Zwierlein sieht diese Inkonsequenzen gar als Beweis für eine Nichtaufführbarkeit der Tragödien Troades Stücke.12

Ein Erklärungsansatz hierfür beruht auf der Methode, die Lieder als selbstständige Einheit und losgelöst von der dramatischen Handlung zu betrachten. Töchterle nimmt die Konzeption der Chorlieder schon bei den griechischen Tragikern als „stock of songs“ an, also als thematischen Fundus, aus dem sich der Autor bedienen konnte, um passende Chorlieder später für die jeweilige Tragödie auszuwählen.13 Als losgelöst von der Handlung betrachtet auch Haywood die Chöre und klassifiziert sie als „individual pieces of lyric poetry.“14 Auch Cattin erwägt die Möglichkeit, die Chorlieder seien ganz ohne Bezug zu einem bestimmten Stück geschrieben worden.15 Cattin ordnet die Lieder bzw. sogar einzelne Verse verschiedenen thematischen Untergruppen zu („Les thèmes philosophiques, pathétiques, pittoresques“), wobei ein Mehrwert auf interpretativer Ebene jedoch nicht erreicht wird.16 Davis sieht einen engeren Bezug zwischen Chor und Handlung. Ein wichtiger Schritt in seiner Arbeit ist das Aufzeigen von Parallelen einzelner Junkturen in Chorliedern und Sprechpartien der jeweiligen Tragödie, was der „stock of songs“-These deutlich widerspricht. Er kommt zu dem Schluss, hervorzuheben sei die „significance of choral odes for interpretation of the plays.“17 Dabei müsse man jedoch scharf unterscheiden zwischen Seneca dem Philosophen und Seneca dem Dramatiker. Der philosophische Inhalt der Chorlieder sei lediglich zu dramaturgischen Zwecken gebraucht, um beispielsweise zu vertiefen, wie eine Figur denke oder fühle.18 Dies erscheint oberflächlich. Dass viele Lieder tiefgehenden philosophischen Gehalt haben, ist schwer von der Hand zu weisen. Deren sinnhafter Zusammenhang wird freilich zerstört, wenn man die Chorpartien, wie es in der Untersuchung von Davis geschieht, ebenfalls aus ihrem Kontext löst und nur die Bezüge zur Handlung zulässt, die in das Interpretationsschema passen. So klassifiziert Davis die Lieder in die Unterkategorien mythology , philosophy und prayer und nutzt somit die Ergebnisse, die er über die Verknüpfung von Akt und Chorlied gewonnen hatte, kaum. Auch Mazzoli stellt den Zusammenhang zur Handlung in der Zuordnung der Chorlieder zu verschiedenen Kategorien her, die in jeweils unterschiedlichem Beziehungsgrad zum Aktgeschehen stünden. So unterscheidet er Kategorie K (kairós) als realen Bezug zur dramatischen Handlung, G (gnomé) für allgemeine Sinnsprüche und M (mythos), für mythische Beispiele und Verweise.19 Zwar lassen sich die Lieder leicht nach diesem Schema klassifizieren, jedoch führt diese Zuteilung auf inhaltlich-interpretativer Ebene nicht weiter.

Die Ablösung der Chorlieder von der Handlung und deren Neuordnung nach Untergruppen trägt keinesfalls dem ursprünglichen Kompositionsprinzip Rechnung, da der Chor so aus dem dichten Geflecht gerissen wird, in dem er eigentlich geschaffen wurde. Dass die Chorpassagen offensichtlich als integraler Bestandteil eines bestimmten Theaterstückes konzipiert und nicht als separates Liederbuch komponiert worden sind, beweisen manifeste Bezüge und Einbettungen in den ganz spezifischen Kontext sowie in einen festgeschriebenen Gedankenverlauf.

Gil betrachtet zwar die Lieder noch als losgelöst von der restlichen Tragödie, hält den Chor jedoch immerhin für ein Hilfsmittel zum Verständnis der Stücke. Problematisch ist dabei seine Auffassung, der Chor gebe „Hinweise, die dem Leser genügen, um die Handlung stoisch zu beurteilen.“20 Dies lässt sich nur auf einige wenige Lieder anwenden, denn eine große Anzahl ist gerade nicht stoischen Inhalts und scheint eher Verwirrung als Klarheit zu stiften. Gil unterteilt deshalb in Lieder mit und ohne Handlungsbezug.21

Stevens kommt zu dem Schluss, der Chor sei ein „completely ignorant observer whose impressions create ambiguity and tempt the audience to misunderstand the action.“22 Dieser Ansatz sieht den tragischen Chor als Kontrastfolie zum Aktgeschehen. Der Chor sei ein „uninformed informer“, der naiv die Geschehnisse auf der Bühne interpretiere und die Entscheidung, welche seiner Sichtweisen zu übernehmen oder zu verwerfen seien, dem Urteil des Rezipienten überlasse.23 Diese scheinbare Naivität des Chores deutet Stevens als ironische Umkehrung des allwissenden griechischen Chores.24 Eng an diese Deutung schließt sich Fischer an, die im Chor einen Widerhall von „populärphilosophische[n] Meinungen“25 und damit keinen Vermittler von ernstzunehmenden Aussagen des Stückes sieht.26 Das Problem an Stevens und Fischers Auffassung des Chores ist, dass diese Erklärung nur für die Lieder Gültigkeit beanspruchen kann, in denen tatsächlich Widersprüche zur Handlung nachzuweisen sind. Oftmals entsprechen die Chorpartien jedoch dem senecanischen Weltbild.

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