3. Die Chorlieder als mise-en-abyme der Tragödie
Den Chorliedern liegt ein Prinzip zugrunde, das sowohl alle wichtigen inhaltlichen Komponenten mitberücksichtigt als auch eine Handreichung zum Verständnis der Tragödien darstellt. Dass die Chorlieder maßgeblich zur Deutung der Tragödien beitragen, wurde oftmals bemerkt. So konstatiert Lefèvre mit Rückbezug auf Marx: „Wenn W. Marx zu Recht behauptet hat, Senecas Chor stehe über den Ereignissen, seine Lieder seien nicht ein Akt der Hingabe, sondern eher eine Zugabe, er gewinne keine Einsicht, sondern habe eine Ansicht, er fühle sich vom Geschehen nicht angesprochen, sondern sage etwas dazu – darf man erwarten, daß Seneca die Deutung des Geschehens in den Chorliedern vorträgt.“1 Allerdings wird dieser Ansatz nicht konsequent weiter verfolgt. Zwar wird der Chor als objektiver Deuter angesehen, gleichzeitig werden ihm jedoch logische BrücheTragödien Thyestes 2 vorgeworfen, wenn die Chorlieder nicht zum Aktgeschehen passen.3 Ein erhellendes Bild liefert Kirichenko: „Es ist fast so, als sei der Chor ein an einem offenen Fenster stehender Passant, der alles, was sich innerhalb des Hauses abspielt, beobachten und sich sogar mit seinen Bewohnern unterhalten kann, der aber nicht in der Lage ist, irgendetwas dagegen zu unternehmen, wenn die Bewohner entscheiden, das Fenster von innen zuzuschließen.“4 Allerdings bleibt es nicht bei dieser passiven Rolle des Chores: Er ist nicht nur Beobachter, sondern auch Betroffener und vor allem Deuter, der die Funktion übernimmt, dem Zuschauer die Geschehnisse im Haus zusammenzufassen und zu erklären.
Diese Deutung des Geschehens erfolgt nach einem fest disponierten Ablauf. Die Chorlieder spiegeln in chronologischer Abfolge die Kernaussagen der einzelnen Akte wider. Senecas Chorliedern ist in seinen Tragödien eine Schlüsselrolle zugedacht. Sie sind dafür verantwortlich, den Kern der Tragödie zu verdichten.5 Ihre Aufgabe ist es, die wichtigen Leitideen, die tragend für das Stück sind, geordnet aufzuzeigen. Das maßgebliche System, auf das sie sich zurückführen lassen, ist also ein literarisches. Sie bilden gleichsam eine Tragödie im Kleinen , die jedoch von sämtlicher Handlung entschlackt ist. Die Chorlieder formen den Leitfaden zur Interpretation der Tragödien. Diese reduzierende Spiegelung des Wesentlichen lässt sich literaturtheoretisch mit dem Begriff der mise-en-abyme fassen. Dällenbach hat eine umfassende Monographie zur Erklärung dieses Konzeptes vorgelegt.6 Ursprünglich stammt der Begriff aus der Heraldik und findet sich beschrieben bei Ménestrier: „Abime est le milieu & le centre de l’Ecu, quand on suppose que l’Ecu est rempli de trois, quatre ou plusieurs autres figures, qui etant elevées en relief font de ce milieu une espece d’Abime.“7 Etwas präziser ist die Definition von Furetière im Dictionnaire universel von 1690: LʼAbyme sei „Terme de blason. C’est le cœur, ou le milieu de l’Escu, ensorte que la pièce qu’on y met ne touche et ne charge aucune autre pièce telle qu’elle soit. Ainsi on dit d’un petit Escu qui est au milieu d’un grand, quʼil est mis en abyme.“8 Die mise-en-abyme bezeichnet in der Heraldik also eine Miniatur des Wappens, die in dessen Mitte noch einmal abgebildet wurde.9 Diese Theorie wurde später für die Literatur nutzbar gemacht und maßgeblich von André Gide für den nouveau roman weiterentwickelt.10 Im Laufe der Zeit wurde sie auf immer kompliziertere Randphänomene angewendet,11 in ihrer Grundbedeutung bezeichnet sie jedoch nach Dällenbach Folgendes: „l’aptitude de doter l’œuvre […] d’un appareil d’auto-interprétation. En affirmant d’un récit que rien ne lʼéclaire mieux que sa mise en abyme.“12 Die Quintessenz des Werks wird in knapper Form auf verdichtetem Raum dargelegt.13 Dies dient der konzisen Bestimmung der Autorintention.14 Dällenbach unterteilt die mise-en-abyme dabei in verschiedene Verwendungsformen: Erstens als einmalig auftretendes Phänomen, zweitens als stückweise über die Erzählung verteiltes System, das mit dieser in stetiger Verbindung steht, und drittens als Motiv, das mit gleichbleibender Aussage in verschiedener äußerer Form immer wieder auftaucht.15 Senecas Chorlieder lassen sich der zweiten Gruppe zuordnen. Sie präsentieren über die gesamte Tragödie hinweg den Argumentationsgang der Interpretation, indem sie die wesentlichen Aussagen der einzelnen Akte der Reihe nach verdichten.
Ziel der folgenden Untersuchung soll es sein, aufzuzeigen, dass die Chorlieder in den senecanischen Tragödien das Element sind, das die Idee des Stückes maßgeblich transportiert. Dies kann nur erkannt werden, wenn man die Chorlieder in ihrer chronologischen Reihenfolge betrachtet und sie im komplexen Handlungszusammenhang an der ihnen zugedachten Position behandelt. Es soll im Folgenden eine Analyse zweier Stücke anhand ihrer Chorlieder erfolgen, um deren Funktion und Einbettung in die Tragödien zu erweisen. Diese soll, wie eingangs erläutert,16 die Tragödien Oedipus Tragödien Oedipus und Troades Tragödien Troades zum Gegenstand haben, da sie beide hinsichtlich der Theodizeefrage als besonders problematisch empfunden werden und deshalb ihre Interpretation in der Forschung stark umstritten ist. Ihre Chorpartien können, wie gezeigt werden wird, hierfür eine Lösung anbieten.
4. Fallbeispiele
4.1. Oedipus
Tragödien Oedipus Senecas Oedipus Tragödien Oedipus unterscheidet sich signifikant von der sophokleischenSophoklesOid. T. VorlageSophokles.1 Bei SophoklesSophokles wiegt sich OidipusSophoklesOid. T. zu Beginn in Sicherheit, erst im Laufe des Stückes beginnt seine Welt mit dem schrittweisen Erfassen der Wahrheit zu wanken. Der senecanische OedipusTragödien Oedipus ist von Beginn des Stückes an zutiefst verunsichert und von dunklen Ahnungen wegen Apolls Schicksalsspruch geplagt. Das Stück konzentriert sich weniger auf die Wahrheitsfindung als solche als auf die Abbildung des Erkenntnisprozesses der eigenen ausweglosen Situation. Dieser ist gekennzeichnet durch das stetige Scheitern des Protagonisten, der die eigene Hilflosigkeit immer mehr begreifen muss. Die übergeordnete Macht, der Oedipus ausgeliefert ist, ist das fatum , das ihn ins Verderben treibt. Oedipus versucht zu verstehen, wehrt sich und verliert dennoch am Ende. In diesem Stück geht es Seneca weniger darum, eine Lösung oder einen Ausweg aufzuzeigen, sondern darzulegen, wie der Mensch die Welt begreifen kann und wie diese seiner Meinung nach konzipiert ist.
Dabei steht zentral im Stück die Frage der Schuld und Verantwortung in einem determinierten System. In der stoischen Philosophie ist im Grunde für die Schuldhaftigkeit einer Person nur die eigene Gesinnung wichtig. Besonders Seneca hebt die Rolle des animus , also des Vorsatzes bei einer Handlung, hervor. Ist eine gute Handlung nicht intendiert, ist es auch keine gute Handlung, und umgekehrt: Liegt keine Absicht bei einer schlechten Tat vor, ist eine Person auch nicht De beneficiis schuldig. Epistulae morales 2 Dann ist die Handlung vom Schicksal bestimmt Tragödien Oedipus und Tragödien Oedipus gewollt.Aristoteles3 Diese Dominanz der Intention bei der Bewertung einer Handlung geht so weit, dass jemand als schuldig angesehen wird, der eine schlechte Handlung nur geplant, aber letztlich wegen äußerer Umstände nicht habe ausführen können. De constantia sapientis 4
Eine Fallprüfung nach der stoischen Ethik konzentriert sich also auf die Frage nach dem Vorsatz. Es ist somit möglich, dass zwar der Tatbestand objektiv erfüllt ist, da eine Tat tatsächlich begangen wurde. Dennoch ist dies nach stoischer Auffassung nicht zwangsläufig verurteilbar, wenn kein Vorsatz vorliegt, die Erfüllung des Tatbestandes auf subjektiver Ebene also entfällt. Es wurde kein Unrecht begangen, da sich Unrecht durch den bewussten Verstoß gegen eine Regel oder einen Wert charakterisiert. Spielt man dieses Schema an der Figur des OedipusTragödien Oedipus durch, müssen zunächst zwei Fälle unterschieden werden. Die Hauptanklage besteht im parricidium und im Inzest mit Iocaste. In diesem Fall ist der objektive Tatbestand erfüllt (OedipusTragödien Oedipus hat seinen Vater getötet und seine Mutter geheiratet). Der subjektive Tatbestand ist hingegen nicht erfüllt, denn OedipusTragödien Oedipus weiß nicht um seine wahre Identität und kann somit weder in Laius noch in Iocaste seine Eltern erkennen. Nach stoischer Lehre wäre OedipusTragödien Oedipus aufgrund seines Nichtwissens nicht schuldig zu sprechen. Scharf davon zu scheiden ist der Nebenanklagepunkt. Interpreten haben der Figur des OedipusTragödien Oedipus vorgeworfen, er habe, auch wenn er für den Vatermord nicht zur Rechenschaft zu ziehen sei, nichtsdestotrotz einen Mann getötet und damit Unrecht begangen.5 Zwar ist diesmal der Tatbestand auf objektiver und auf subjektiver Ebene erfüllt (Laius ist tot und OedipusTragödien Oedipus wollte ihn töten), allerdings lässt sich für das Verhalten von OedipusTragödien Oedipus hier ein Rechtfertigungsgrund anführen: OedipusTragödien Oedipus betont, es habe sich um Notwehr gehandelt, da sein Gegner ihn zuerst angegriffen habe ( cum prior iuvenem senex / curru superbus pelleret , 770–771). OedipusTragödien Oedipus verteidigt in diesem Sinne nur sein Recht der eigenen körperlichen Unversehrtheit und ist von der Schuld freizusprechen.
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