Caroline Dänzer - Der Schlüssel zur Tragödie

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Der Jesuit Jakob Balde (1604–1668), der «deutsche Horaz», ist als einer der bedeutendsten Lyriker der Frühen Neuzeit bekannt. Wenig Beachtung hat man hingegen seinem vielfältigen dramatischen Werk geschenkt, dem sich der vorliegende Band widmet. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht ein Kernelement der dramatischen Technik Baldes: Der tragische Chor. Baldes Chor entsteht aus der selbstbewussten intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Chor der senecanischen Tragödien, für dessen Funktion eine Neubestimmung vorgeschlagen wird. Damit bietet der Band grundlegende Einsichten in das dramatische Schaffen zweier unterschätzter Tragiker: Seneca und Balde.

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Ratio studiorum ,7 die über nationale Grenzen hinweg ein gleiches und geordnetes Curriculum ermöglichte, der hohe Bildungsstandard der Lehrenden und nicht zuletzt der Zugriff auf weitreichende finanzielle Mittel aus kirchlichen Quellen sowie privater Gönner etablierte die Institutionen bald als Bildungsorte par excellence.8 Dabei war die Gewichtung der jesuitischen Ausbildung immer klar festgelegt: Alle Disziplinen waren der Ausbildung von (katholischen) Theologen untergeordnet und stellten mehr oder weniger ein Mittel zum Zweck dar. Auch wenn Bildung letztlich also als Weg zu Höherem im Sinne des Grundsatzes omnia ad maiorem Dei gloriam galt,9 war deren Standard so hoch, dass die Jesuitenkollegs neben ihren internen zunehmend auch externe Schüler aufnahmen, die vor allem an der Grundausbildung interessiert waren. Die Kollegs wurden oftmals so beliebt, dass den Jesuiten die Leitung alteingesessener Universitäten übertragen wurde oder sie gar Schüler aus protestantischen Haushalten für ihre Schulen abwerben konnten.10

Trotz des theologischen Utilitarismus nahm der lateinische Sprachunterricht im jesuitischen Lehrplan eine Zentralstellung ein, da er für alles Weitere die Basis bildete. Man bemühte sich jedoch, ihn schon früh in Beziehung zu seinem rhetorischen Nutzen zu setzen, um das Ziel einer sapiens et eloquens pietas nicht aus den Augen zu verlieren.11 Neben den Schuldeklamationen wurden auch Theaterstücke aufgeführt.12 Man erhoffte sich einen gleichsam synästhetischen Lernprozess, in dem sich literarische, politische, rhetorische und religiöse Bildung den noch jungen und beeinflussbaren Schülern vermitteln ließ.13 Diese Methode war zunächst kopiert von den Humanistendramen, die im Erziehungswesen der Protestanten einen festen Sitz hatten.14 Allerdings wurden diese oft in der Muttersprache verfasst, während die Jesuitenstücke „erbarmungslos lateinisch“ waren.15 Gleichwohl erfreuten sie sich großer Beliebtheit und zogen trotz ihrer ursprünglich für den schulischen Rahmen vorgesehenen Konzeption ein immer breiteres Publikum an. Neben Veranstaltungen für Angehörige der Schüler gab es öffentliche Darbietungen an Festtagen sowie Sondervorstellungen zu Ehren eines adeligen Gastes, wenn sich dieser in der Stadt befand.16 Die sprachliche Barriere vermochten die Jesuiten einerseits durch das Voranstellen von Periochen zu überwinden, die wichtige Informationen meist in zweisprachiger Form zusammenfassten.17 Andererseits verfügten die Aufführungen der Jesuiten oft über einen komplexen Bühnenaufbau, teure und aufwändige Ausstattung und Kostümierung und präsentierten Stücke von beträchtlichem Aufwand.18 So verschmolzen sie in vielen Teilen mit den Ansprüchen des Barocktheaters und wurden zu einer von der Gesellschaft akzeptierten Marke auf der kulturellen Landkarte. Als Themen waren besonders religiöse Motive beliebt, die sich gleichsam als parodia christiana , als antike Stoffe im neuen Gewand präsentierten.19 Rein humanistische Dramen blieben bei den Jesuiten, anders als bei ihren protestantischen Kollegen, eine Seltenheit.20 Diese Wahl war dem Ziel geschuldet, gleichzeitig missionarische Inhalte zu transportieren und die Bedeutung des Katholizismus zu untermauern. Während die frühen Stücke noch stark polemisch waren, wurde später die Methode vorgezogen, „nicht so sehr die Position des Gegners [zu] erschüttern, als vielmehr die eigene überzeugend oder gar überwältigend darstellen“21 zu wollen. Den größten Einfluss hatten die Jesuiten und ihr Theater deshalb im süddeutschen Raum und Österreich, wo sich die Gegenreformation besonders erfolgreich durchgesetzt hatte.22 Es hieße allerdings die Qualität der Stücke beträchtlich herabsetzen, wollte man sie allein auf ihre Funktion als Bollwerk gegen den Protestantismus beschränken: Dies mag zunächst zwar die Hauptintention gewesen sein, doch ist der dramaturgische und literarische Wert der Stücke in einigen Fällen so hoch, dass sie zu Recht auf sämtlichen Bühnen Europas gespielt wurden. Allerdings darf bei einem Jesuitendrama nie aus dem Blick geraten, dass Stücke dieses Genres im Sinne des bloßen ‚l’art pour l’art‘ nicht existierten. Ein gewisses didaktisches Ziel haftete ihnen stets an, es konnte sich hierbei auch um die Vermittlung von Bildungsinhalten oder ganz allgemeiner christlicher und charakterlicher Werte handeln.23 Eben diese Ausrichtung ist es, die das Jesuitentheater zu einer Einheit bringt: Mögen sich die Stücke aufgrund ihrer unterschiedlichen Entstehungskontexte und ihrer Vielfalt an Verfassern kaum zu einem homogenen Gattungsbegriff vereinen lassen, so bleiben sie doch stets einer übergeordneten Maxime treu: der Pädagogik.24

Wenngleich sich Baldes dramatische Werke aufgrund ihrer hohen sprachlichen Qualität deutlich vom Durchschnitt der barocken Jesuitendramen abheben, bleibt für seine Stücke der pädagogisch-vermittelnde Charakter des Jesuitentheaters konstitutiv. Besonders gilt dies für die Jephtias Jephtias , in der Balde seine Deutung des biblischen Jephte-Stoffes für eine breite Öffentlichkeit aufbereitet. Ein essentielles Mittel, um dies zu erreichen, ist der tragische Chor, den er nutzt, um die Interpretation der Tragödie zu liefern und ihre Aussage zu entschlüsseln. Dass Balde seinem Chor eine so zentrale Funktion zukommen lässt, ist in der zeitgenössischen Dramatik keineswegs gängiger Usus.

2. Jakob Baldes Chor: Lieder nach dem Vorbild Senecas

Generell bietet der Chor im neulateinischen Drama der Frühen Neuzeit kein einheitliches Bild. Die Verwendungsformen sind je nach Stück und Autor verschieden. Besonders im Laufe des 17. Jahrhunderts wird er weniger systematisch eingesetzt, kommt seltener zu Wort oder wird schließlich ganz weggelassen. Insofern ist allein die Verwendung eines dramatischen Chores bei Balde nicht selbstverständlich.1

Einen ersten Schritt zur Erschließung des Chores im neulateinischen Drama hat Volker Janning in einer umfassenden Monographie unternommen. In der Arbeit sammelt er im Wesentlichen Leitmotive der Chorlieder und erstellt eine thematische Kategorisierung, die Aufschluss über zeitgenössische Diskussionsthemen gibt. Anhand ausgewählter Autoren untersucht er die Integration des Chores in die Dramen. Seine Funktion umschreibt er allgemein als eine relativ technische: „Die neulateinischen Dramatiker nutzten […] die durch den Chor eröffneten Möglichkeiten zur Darbietung von Ruhepunkten in der Handlung und zur künstlerischen Gestaltung der Aufführungen durch Musik, Tanz, und den Vortrag bzw. Gesang chorlyrischer Partien.“2 Insgesamt seien vor allem zwei Nutzungsmöglichkeiten des Chores in der Frühen Neuzeit hervorzuheben: Erstens werde ihm ein starker Unterhaltungswert zugewiesen, der bisweilen ein pompöses Ausmaß annehme und als Vorstufe zur Oper gesehen werden könne. Neben diesem „Prozess der Veroperung“3 sei eine zweite Funktion besonders relevant: So leiste „der Chor einen wichtigen Beitrag zur Sozialisierungs- und Belehrungsfunktion des neulateinischen Dramas, das vielfach als Medium der Moraldidaxe fungiert und zur Propagierung der jeweiligen […] Wertvorstellungen instrumentalisiert“ werde.4 Dass in Bezug auf Balde weder die eine noch die andere Deutung des Einsatzes des Chores ausreicht, wird bei der Betrachtung seiner Chorpartien schnell deutlich: Sie übersteigen eine solche funktionale Ausrichtung in vielerlei Hinsicht.5

Um die Rolle des Chores bei Balde adäquat einzuordnen, muss das Vorbild beachtet werden, das für die Jephtias Jephtias Pate gestanden hat: Im Vorwort bekennt sich Balde explizit zu Senecas Tragödien als Inspirationsquelle, die ihm als Richtschnur für sein eigenes Schaffen gedient hätten.6 Es ist also zu erwarten, dass sich Balde auch bei der Konzeption seiner Chorlieder an Seneca orientiert hat. Dass sich ein barocker Autor wie Balde Seneca als Vorbild wählte, ist wenig erstaunlich. Das 17. Jahrhundert hielt Seneca tragicus stets in großen Ehren.7 Fanden sich im 16. Jahrhundert noch eher Komödien, in denen vor allem auf PlautusPlautus und TerenzTerenz Bezug genommen wurde, kamen im 17. Jahrhundert zunehmend Tragödien hinzu.8 Hier berief man sich auf Seneca, den einzig erhaltenen römischen Tragiker.9 Praktisch gesehen waren Lateinkenntnisse besser etabliert als Griechischkenntnisse, selbst wenn die griechischen Tragiker erschlossen waren.10 Lefèvre weist außerdem darauf hin, dass das Christentum bei Senecas Bevorzugung eine wichtige Rolle spielte: „Denn so wie das Christentum in vielen Punkten große Verwandtschaft zur stoischen Philosophie zeigt, waren es gerade die christlich geprägten Epochen vom ausgehenden Mittelalter bis zum Barock, die sich von Senecas Weltanschauung angesprochen fühlten.“11 Der Einfluss von Senecas Chorliedern auf das neulateinische Drama ist bei Janning allerdings nur kurz angesprochen und auf relativ mechanische Aspekte (Metrik, Themenwahl etc.) beschränkt. Meist handle es sich bei Seneca, nach Friedrich Leos veralteter These, um „Zwischenaktlieder“ mit rein überbrückender Funktion. Der Zusammenhang zwischen Lied und Handlung sei allenfalls über lose philosophische Verbindungen herzustellen, wenn stoisches Gedankengut vermittelt werde.12

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