Jetzt waren meine schwarzen Haare lang und glatt und die rote Schleife bloß noch eine lustige Erinnerung. Wie Schneewittchen sah ich auch nicht mehr aus. Wohl eher wie eine molligere Pocahontas, wobei mollig übertrieben war. Aber Pocahontas! Himmel. Die brach ja fast durch in der Mitte. Meinen Stoffhund Quimpi hatte Poppy abgelöst. Und Leons Löwe Schlumpi war bei unserem Abenteuer verloren gegangen. Das eigentliche Drama des Tages. Dafür bekam er ein LEGO StarWars-Set mit Anakin Skywalker, den er immer in seiner Hosentasche mit sich herumtrug und jedem stolz unter die Nase hielt. Was ziemlich nervte. Doch diese Verbundenheit zwischen uns, dieses Gefühl, irgendwie zusammenzugehören, war geblieben.
Seit ein paar Monaten war da aber etwas Neues, Verwirrendes …. Auf einmal hatte ich Angst, ihn zu verlieren, und wog meine Worte ab, was ich zuvor nie getan hatte. Ich dehnte plötzlich unser Begrüßungsritual aus, um ihn länger berühren zu können. Und wenn ich in diese blauen Wahrsagekugeln blickte, dann wurde mein Herz von einer warmen Welle geflutet. Und das war eine Welle, in der ich gerne untergehen wollte.
Hurra, die Welt geht unter donnerte über den Schulhof. Auf der hellen Betonwand des Schulgebäudes brandeten aufgepeitschte Wellen, die ein Beamer aus einem Baum heraus darauf projizierte. Auf den breiteren Ästen saßen Schüler, verkleidet als Froschmänner und -frauen. Sie hatten Flossen an, trugen Taucherbrillen und grölten den Songtext in den frühen Morgen. Am Fuß des Baumes standen zwei Lehrer und reckten ihre Hälse in die Höhe, während überall auf dem Schulhof verstreut Schüler wie tot auf der Erde, beziehungsweise dem Meeresgrund, lagen – ertrunken.
Ich erkannte Fidor, Mayas großen Bruder, der eine Bademütze trug und aus dem Baum heraus laut den Refrain skandierte.
»Wir brauchen EUCH.« Ein blasses Mädchen mit schillernden Plastikschuppen auf ihrem T-Shirt gab Leon und mir Flyer. Sie klang sirenenhaft. Ein weiteres Paillettenmädchen pustete Seifenblasen in die Morgenluft. Ich las: Du hast keine Zeit mehr, also nutze sie. Komm in unsere Aktionsgruppe zur Rettung der Welt. Sei cool und lass dich nicht kaltstellen. Lieber überleben, statt Vorzeit-Bio lernen. Darunter ein Wal mit Flügeln. Lass uns das Unmögliche möglich machen!, stand auf seinem Bauch.
»Genial!«, rief ich dem Mädchen zu.
»Ihr beide könnt sofort mitmachen.« Das Paillettenmädchen zeigte auf die Toten, die nach Luft japsend auf dem Schulhof verendet waren.
»Komm!«, schrie ich Leon zu und zerrte ihn hinter mir her zum Unterwasserfriedhof.
»Nee, das ist mir echt zu blöd.«
»Was? Ist doch eine coole Aktion.« Ich ließ mich zwischen zwei Ertrinkende sinken und zog Leon herunter, der sich murrend neben mich setzte. »Es geht um alles, schon vergessen?«
»Ava, das ist doch nicht dein Ernst!« Er stand auf und blickte sich um. »Gibt’s hier irgendwo eine versteckte Kamera? Ich glaub’s echt nicht.«
Frau Liebscher lief über den Schulhof.
»Hey, die haben wir jetzt. Komm!« Er zog an meiner Hand.
»Nein. Das hier ist wichtiger!« Ich riss mich los.
»Okay, dann geh ich allein.« Und schon war er verschwunden.
Ich spürte den kühlen Boden unter mir. Die Musik wogte über mich hinweg, die Wellen mit ihren Silberkämmen schäumten über die Schulwand. Ich blickte in die Baumkronen, sah den blauen Himmel hindurchschimmern, einen Vogel, der seine Kreise drehte. Ein paar Seifenblasen in Regenbogenfarben. Meine Welt, dachte ich. Meine berauschend schöne Welt. Eine tiefe Traurigkeit überschwemmte mich und nährte einen Schluchzer, der meine Seele flutete wie der steigende Meeresspiegel. Es durfte einfach nicht sein.
»Kommst du nachher zum Planungstreffen bei Alice?« Ein Mädchen neben mir schob die Taucherbrille hoch. Ihre Augen waren so bernsteinfarben wie ihre Haut und die kleinen Perlen in ihren Dreadlocks. Sie hatte nicht nur Flossen an den Füßen, sondern auch an den Händen. Eine reichte sie mir. »Yoda.«
Ich schüttelte eine Flosse und grinste. »Bist du so weise, oder was?«
»Klar. Kommen du musst.« Sie wackelte mit den Flossen, die sie sich neben den Kopf hielt wie übergroße Ohren. Ich lachte und der Schluchzer löste sich auf wie Wachs in der Sonne.
»Ich komme natürlich, Ehrensache.«
Yoda nahm eine Flosse ab und legte mir etwas in die geöffnete Hand. Eine kleine Muschel, rau und betongrau. Dann ließ sie sich zurücksinken und regte sich nicht mehr. Ich schloss meine Hand um die Muschel und blickte wieder in die Baumkrone. Plötzlich war da eine kleine Hoffnung. Ein Zeichen. Ein Anfang gegen das Ende. Ein Wegweiser. Yoda mit den Bernsteinaugen.
Als ich den Klassenraum betrat, war Frau Liebscher schon dabei, ihre Sachen einzupacken.
»Ah, Ava, schön, dass du auch noch kommst. Bei der nächsten Aktion reichst du bitte vorher eine Entschuldigung ein.« Ein paar Mitschüler kicherten. Frau Liebscher kramte in ihrer Tasche, zog eine Karte heraus und reichte sie mir. »Wir haben gerade Referatsthemen zur Klimawoche verteilt. Das hier ist übrig.« Ich blickte auf die Karte. Ein Weizenfeld. Mehr war darauf nicht zu sehen. »Ackerbau. Landwirtschaft. Ein tolles Thema.« Frau Liebscher lächelte mich an.
»Aber …« Ich sah Hilfe suchend zu Leon, der bloß mit den Schultern zuckte.
»Tut mir leid«, sagte Frau Liebscher und ließ die Schnalle ihrer Tasche einschnappen. »Es ist auch nur noch ein Termin übrig.« Die Schulglocke läutete. Sie ging zur Tür und drehte sich um. »Montag nächste Woche.«
»Oh, das tut mir nun aber gar nicht leid.« Ben lief an mir vorbei und wedelte mit seiner Karte vor meiner Nase herum, auf der ein Eisbär auf einer Scholle abgebildet war. Der Arsch. Ich ignorierte ihn und ließ mich neben Leon fallen.
»O Mann. Ausgerechnet Landwirtschaft. Warum hast du das nicht genommen? Du wohnst doch auf einem Bauernhof.«
»Weil mich das hier mehr interessiert.« Er zeigte mir seine Karte. Eine Insel im Ozean, auf der die Hütten halb im Wasser standen.
»Aber das ist doch mein Wunschthema!«
»Ja, meins auch.« Leon grinste.
»Das stimmt doch gar nicht.« Ich wollte ihm die Karte aus der Hand nehmen, aber er zog sie schnell weg.
»Sagen wir mal so: Ich wollte dich schützen, damit du dich nicht noch mehr in die Sache reinsteigerst und gar nichts Spaßiges mehr mit mir machst.« Er zog einen Mundwinkel hoch.
»LEON! Das ist soo …« Eigentlich wollte ich egoistisch sagen, aber ich brachte das Wort nicht über die Lippen. Er sah mich einfach so verdammt süß an.
»Vielleicht tauscht Kruso mit dir.« Kruso. Dass er auf einem Hof lebte, war nicht zu übersehen. Kruso sah aus wie ein Klischee-Bauernsohn, hatte zerschlissene Jeans an, schwere Stiefel, an denen Erde klebte, und ein viel zu großes kariertes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Seine Haare waren etwas zu lang und etwas zu zerzaust. Er saß allein an seinem Tisch in der letzten Reihe und soweit ich mich erinnerte, sprach er fast nie mit jemandem. Ich vermutete, er träumte sein Leben eher, als dass er es wirklich lebte. Es dauerte auch immer ein wenig länger als bei anderen, bis er reagierte, wenn ein Lehrer ihn ansprach. Gerade kratzte er sich mit einer Ecke seines Lineals Erde unter den Fingernägeln heraus.
»Hey.« Kruso zuckte zusammen. »Erde an fernen Planeten.« Ich ließ mein Ackerfoto auf seinem Tisch landen. »Kannst du mir mal deine Karte zeigen?« Kruso blickte so langsam zu mir, als würde seine Welt sich in Zeitlupe drehen. Dann kramte er zwischen den Seiten eines zerfledderten Collegeblocks die Karte hervor. Eine Schale mit Zitrusfrüchten, Mangos und Avocados war darauf zu sehen.
»Baut ihr das auf eurem Hof an?«
Er lächelte wie jemand, dem gerade ein Kompliment in einer fremden Sprache gemacht wurde, und wandte sich dann wieder seinen Fingernägeln zu. »Noch nicht«, sagte er nach einer Ewigkeit.
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