Rian hob die Augenbrauen. Dies war der erste Beweis, dass David doch das Lesen erlernt hatte und mitnichten nur die Bilder anschaute. Aber sie zog es vor, nicht weiter darauf einzugehen.
»Hotel klingt ohnehin nicht schlecht«, sagte sie stattdessen. »Wir sollten die Pferde freilassen. Es ist schon spät, wir können uns genauso gut morgen auf die Suche machen, ausgeruht und frisch.«
David nickte, und sie lenkten die Pferde mit leichtem Schenkeldruck die Querstraße hinunter. Hier wurde die Bebauung bereits dichter, das Fachwerk seltener, stattdessen überwogen verputzte und teilweise mit Stuck verzierte Häuser in den Fassadenreihen. An einem modernen Haus mit einem verglasten Vorbau prangte ein Schild mit dem Bild eines blondgelockten Kriegers, der auf einem Hügel schlief. Darunter stand in geschwungenen Buchstaben Zur Siegfriedsruh . Rian parierte ihr Pferd und legte den Kopf etwas schräg, während sie das Schild betrachtete.
»Sieht dir ein wenig ähnlich, bis auf die Locken«, sagte sie. David warf ihr einen verächtlichen Blick zu und stieg ab. Er half Pirx herunter und gab seinem Pferd dann einen leichten Klaps, der es davontraben ließ.
Rian glitt ebenfalls vom Rücken ihres Fuchses und setzte Grog ab, ehe sie dem Pferd an den Hals klopfte. »Danke, meine Schöne«, flüsterte sie. »Und jetzt geh zurück.«
Die Fuchsstute schloss mit einem kurzen Galopp zu ihrer Gefährtin auf, und wenig später verschwanden beide Tiere im Trab um eine Häuserecke.
»Ich hoffe, sie finden den Weg nach Hause«, sagte Rian.
»Eher als wir«, meinte David mit deutlich hörbarem Sarkasmus.
Rian warf ihm einen kurzen Blick zu, verzichtete jedoch auf eine Erwiderung und ging stattdessen auf die automatisch aufgleitende Schiebetür in dem Glasvorbau zu. Pirx kletterte auf ihre Schulter, und Grog schloss zu ihr auf. David bildete das Schlusslicht, um das lange Offenstehen der Tür nicht seltsam erscheinen zu lassen.
Sie gingen an einigen Grünpflanzen und Rattanmöbeln vorbei durch einen weiteren Durchgang, der sie in einen marmorgefliesten Eingangsraum mit holzgetäfelten Wänden führte. Zur Rechten beherrschte ein langer und hoher Empfangstisch aus dunklem Holz den Raum, während hinten eine rustikale Treppe und ein Aufzug zu sehen waren. Links gab eine offenstehende, ebenfalls rustikal gearbeitete Tür den Blick auf ein Restaurant mit Bar frei. Der Bereich mit den Tischen war unbeleuchtet, anscheinend wurden keine Essensgäste mehr erwartet. An der Bar saß ein turtelndes junges Pärchen mit einer Flasche Mezcal vor sich.
Rian ging zielstrebig zur Rezeption und läutete die Glocke, während David unschlüssig im Raum stehenblieb, den Blick auf die Bar gerichtet. Grog schlenderte weiter zum Aufzug und setzte sich auf einen dort bereitstehenden Gepäckwagen.
Durch eine Tür hinter dem Empfangstisch kam ein bebrillter Mann in mittlerem Alter mit offensichtlich gefärbtem dunklem Haar. Er trug einen dunkelgrünen Anzug, dessen aufgestickte Aufschrift Siegfriedsruh eine Hoteluniform vermuten ließ. Das goldene Schildchen an seinem Revers verriet, dass sein Name Harald Gottmann war.
»Guten Abend, die Herrschaften«, begrüßte er sie in geschäftsmäßig-freundlichem Tonfall. »Was kann ich für Sie tun?«
»Haben Sie noch zwei Doppelzimmer frei?«
Der Rezeptionist musterte Rian kurz, und man konnte förmlich sehen, wie hinter seiner Stirn die Gleichung »Kleidung = Geld« ablief. Schließlich sah er auf einen Bildschirm, der unter der hohen Theke des Tisches verborgen stand, tippte ein wenig auf einer Tastatur herum, und lächelte dann.
»Ja, wir hätten da noch etwas. Mit Blick auf den Dom sogar, wenn Sie möchten.«
»Möchten wir.« Rian zog aus ihrer Umhängetasche den Geldbeutel, den sie sich besorgt hatte, nachdem Nadja die Zwillinge dazu überredet hatte, zumindest gelegentlich mit echtem Geld zu bezahlen. Sie öffnete das Fach für die Scheine und fragte: »Wie viel für eine Nacht?«
Die Augen des Mannes wurden weit, als er Farbe und Menge der Scheine sah.
»Ah … ich könnte Ihnen auch unsere Suite anbieten, die ist ganz ruhig im obersten Stockwerk gelegen …«
»Hat sie zwei breite Betten?«
»Zwei getrennte Schlafzimmer mit Doppelbetten, jedes mit separatem Bad, sowie einen geräumigen Wohnbereich. Es gibt außerdem einen großen Fernseher, Video- und DVD-Spieler, eine Minibar und eine kleine Kochzeile.«
»Gut, dann nehmen wir die. Wie viel?«
Der Mann nannte einen Preis, doch als Rian begann, die Scheine auf den Tisch zu zählen, hob er abwehrend die Hände.
»Meine Dame, normalerweise wird hier erst bei der Abreise bezahlt. Wer weiß, vielleicht verführt Sie unsere schöne Stadt ja doch zu einem längeren Aufenthalt …« Er lächelte ein Werbelächeln, wie man es sonst nur von Plakaten kannte.
Rian hob kurz die Augenbrauen und schob die Scheine dann wieder ein. »Schön ist die Stadt wohl, so weit ich das bisher sehen konnte. Aber wir hoffen, dass wir schnell finden, was wir suchen, und dann rufen uns andere Pflichten.«
»Was suchen Sie denn, wenn ich fragen darf?«
Die Elfe lächelte den Mann gewinnend an. »Wir suchen den Siegfriedsbrunnen. Können Sie uns sagen, wo wir den finden?«
»Siegfriedsbrunnen? Sie meinen den beim Dom?«
Rian wandte den Kopf und wechselte einen schnellen Blick mit ihrem Bruder, doch dieser hob nur die Schultern. Die Elfe sah wieder zurück zu dem Rezeptionisten. »Ja, vielleicht«, antwortete sie vorsichtig. »Warum fragen Sie?«
»Na ja, es gibt in dieser Gegend Siegfriedsbrunnen wie Sand am Meer. Jedes dritte Dorf hat so einen.«
Rian atmete einmal tief durch. Das eben Gehörte war für sie nicht leicht zu verdauen. »Jedes dritte Dorf? Wirklich? Und welcher davon ist der echte?«
Der Mann sah sie fragend und etwas mitleidig an. »Der echte? Was meinen Sie damit? Der, an dem Siegfried angeblich getötet wurde?«
Rian nickte nur stumm.
»Ach so. Na, davon gibt es nur, na, so fünf bis zehn. Überall im Odenwald und sogar bis hinunter ins Kraichgau, glaube ich. Aber nageln Sie mich nicht fest, ich kenne nur den Brunnen hier, und der ist jedenfalls nicht der echte, denn der ist nicht mal hundert Jahre alt.«
Rian seufzte. »Und wo können wir mehr darüber erfahren, wo der echte sein könnte? Oder der, der am ältesten ist?«
»Am ehesten in der Touristeninformation am Markt, würde ich sagen. Da können Sie dann auch gleich unseren Wormser Siegfriedbrunnen bewundern, der steht nämlich auch dort. Und sie sollten unbedingt den Dom anschauen, das Schmuckstück unserer Stadt. Der ist ebenfalls nur wenige Meter weit weg davon.«
Der Mann nahm etwas aus einem Fach und legte es auf den Tresen. »Das hier ist ein Stadtplan. Da finden Sie die Touristeninformation eingetragen, und auch die wichtigsten Sehenswürdigkeiten unserer schönen Stadt. Legen Sie sich nicht zu sehr auf diesen Brunnen fest – Worms hat viel Schönes zu bieten. Dies ist eine der ältesten Städte Deutschlands und ist Ort vieler historisch bedeutender Ereignisse gewesen, von den sagenhaften mal ganz abgesehen. Und nicht umsonst wird es zudem als eines der romantischsten Städtchen Deutschlands bezeichnet. Hier lebt die Geschichte eben noch.«
»Romantisch?« Rian lächelte wieder, und der Mann erwiderte das Lächeln unwillkürlich. »Ja, vielleicht sehe ich mich wirklich noch etwas mehr um. Also sagen wir zwei Nächte. Oder …« Sie sah erneut kurz zu ihrem Bruder, doch dieser studierte die Flaschenreihen im Regal der Bar, und Rian wandte sich wieder dem Rezeptionisten zu. »Nehmen wir drei.«
»Gut. Wenn Sie mir Ihren Ausweis dalassen, fülle ich den Meldeschein für Sie aus. Es sind nur Sie und …« Sein Blick wanderte zu David.
»Mein Bruder David. Ja, nur wir beide.« Rian zupfte ein Blatt von einer Pflanze neben dem Empfangstresen, schüttelte es kurz und reichte es dann dem Mann. »Hier mein Ausweis.«
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