Wir kritisieren die USA oft und heftig, weil wir das können – weil Kritiker nicht im Gefängnis landen oder »verschwinden«, weil ich als ausländische Journalistin nicht damit rechnen muss, Repressalien ausgesetzt zu sein. Es sind nach wie vor gemeinsame Werte, die die USA und Europa verbinden.
Die meisten Gesprächspartner, die ich getroffen habe (zugegeben nicht alle), mag ich einfach persönlich, ob ich ihre politische Einstellung jetzt goutiere oder nicht. Willkommen habe ich mich bei der konservativen Familie in Fargo genauso gefühlt wie bei der Anything-But-Trump-Universitätslektorin in Kalifornien. Ich kenne Freundschaften zwischen Trump-Gegnern und Trump-Unterstützern, die weiter bestehen, weil beide Seiten gelernt haben, das Thema Trump auszuklammern.
Mag sein, dass hier die unverbesserliche Optimistin in mir spricht, aber ich habe in all den Jahren, die ich hier gelebt habe, so viele Aspekte dieses Landes kennengelernt, dass ich aus voller Überzeugung sagen kann: Trotz aller Kritik, die ich übe, liebe ich dieses Land. Wie es ein amerikanischer Freund ausdrückt: Das schönste an diesem Land ist seine Fähigkeit, sich nach dunklen Kapiteln der Geschichte neu zu finden.
STIMMEN AUS EINEM GESPALTENEN LAND
Der Revolutions-Führer
Eine Tour der etwas anderen Art durch den Big Apple
New York
David Kriegleder
»Herzlich willkommen in New York City! Eines gleich vorweg: Das hier ist nicht Disneyland – hier wird nichts schöngeredet, wir nennen die Dinge beim Namen – the Good, the Bad and the Ugly.« Michael Pellagattis Blick wandert selbstbewusst über das Dach des offenen Doppeldecker-Busses. Alle Sitzplätze sind belegt, er wirkt zufrieden – es ist Hochsaison, noch vor der Corona-Krise, und seine heutigen Gäste, internationale Besucher und US-Amerikaner, lauschen den Worten des 32-jährigen Touristenführers aufmerksam. »Ich bin New Yorker der fünften Generation und kenne diese Stadt wie meine Westentasche«, fügt Pellagatti mit kantigem New Yorker Akzent hinzu. Er trägt ein schwarzes Barrett und eine verspiegelte Sonnenbrille – in der linken Hand hält er einen ausziehbaren Teleskopstock, den rechten Arm zieren mehrere Tätowierungen.
Der rote »Hop on Hop off«-Bus setzt sich in Bewegung, manövriert im Schritttempo durch den zähen New Yorker Morgenverkehr rund um den berühmten Times Square. Gigantische Leuchtreklamen flackern von den Gebäudefassaden. Grelle Bildschirme wetteifern um die Aufmerksamkeit der Passanten – werben für Broadway-Musicals, Sportschuhe und Aftershave. Ein buntes Kaleidoskop, nein, Stroboskop spätkapitalistischer Ekstase. Im Hintergrund das Hupen genervter Pendler, begleitet vom Dröhnen mehrerer Presslufthämmer, ein Fußgänger schimpft lautstark auf einen vorbeisausenden Radfahrer. »Ahh, hört ihr das? Bei dieser Geräuschkulisse wird mir gleich ganz warm ums Herz«, sagt Pellagatti – »das ist die wahre Symphonie New Yorks, vergesst die noblen Orchester. Darum reden wir New Yorker auch so laut, sonst hört uns keiner, vielleicht sind wir deswegen alle ein bisschen neurotisch!«
Pellagatti trinkt aus seiner Wasserflasche, atmet kurz durch und widmet sich sofort wieder mit vollem Elan seinen Tour-Gästen. Er ist ein wandelndes Lexikon der Stadt – kaum ein Straßenblock, den er nicht mit einer historischen Anekdote kommentiert.
»In diesem Gebäude ist Nikola Tesla gestorben … und in dieser Nachbarschaft wurde Präsident Franklin D. Roosevelt geboren … Und hier haben sich die irischen Hafenarbeiter angesiedelt, nachdem man sie vom alten Dock am East River vertrieben hatte.«
Der Bus biegt in die 34. Straße ein. »Hier zu meiner Linken sehen sie Macy’s, eines der größten Kaufhäuser der Welt«, erzählt der junge Guide, »das Gebäude soll demnächst zu einem Wolkenkratzer umgebaut werden, die Amazon-Konkurrenz setzt ihnen offenbar ziemlich zu …«
»… Zu meiner Rechten befindet sich das berühmte Empire State Building, wussten Sie, dass es ursprünglich als Zeppelin-Landeplatz konzipiert war?«
»… Und hier in dieser Kirche hat Trump seine Melania geheiratet – the GREATEST wedding ever«, ergänzt er mit einer gekonnten Stimm-Imitation des US-Präsidenten.
Die Occupy-Wall-Street-Tour
Michael Pellagatti ist seit sechs Jahren als Touristenführer in Manhattan tätig. Zwei bis drei solcher Bus-Rundfahrten absolviert er pro Tag, 17 Dollar beträgt der Stundenlohn. »Kein Vermögen, aber ich bin krankenversichert, das ist das Wichtigste.« Nebenbei jobbt er als freischaffender Pressefotograf. Doch Michaels Herzblut steckt in einem anderen Projekt, seiner sogenannten Occupy-Wall-Street-Tour. Bei dieser Spezialführung habe ich ihn 2016 kennengelernt und für eine ORF-Sondersendung zur Wahlnacht interviewt. Thema des damaligen Beitrags war die Frage, wie die junge Generation der unter 35-Jährigen, manchmal auch »Millennials« genannt, politisch tickt. Eine Frage, die untrennbar mit einer Protestbewegung verknüpft ist, die hier in New York City im Jahr 2011 ihren Ausgang genommen hat.
»Occupy Wall Street war so etwas wie die politische Geburtsstunde meiner Generation«, erzählte mir Michael Pellagatti bei unserem ersten Treffen. Er selbst stand im September 2011 an vorderster Front, als Tausende junge Menschen einen Straßenblock rund um die New Yorker Börse mit Zelten besetzt hielten, ein Protest gegen die Nachwehen des 2008 kollabierten Finanzsystems, gegen die Gier der großen Investmentbanken, gegen die Untätigkeit der Politik. Nach knapp zwei Monaten wurde das Protestcamp schließlich recht brutal geräumt – noch heute hat Pellagatti Videos auf seinem Mobiltelefon, die zeigen, wie die weitgehend friedlichen Demonstranten von übereifrigen Polizisten mit Pfefferspray eingekesselt wurden.
»Präsident Obama hat die Räumung des Protestcamps damals zugelassen – für uns ist er damit gestorben und damit auch die Hoffnung, dass sich dieses System durch Wahlen ändern lässt.«
Die Protestbewegung sei zwar mit ihren Zielen und Forderungen gescheitert, aber sie habe damals die Büchse der Pandora geöffnet und landesweit viele weitere Protest- und Bürgerrechtsbewegungen inspiriert, sagt Pellagatti. »Für mich wurde damals klar, dass ich mich politisch und vor allem aktivistisch engagieren muss – ich habe mein überteuertes und nutzloses Studium abgebrochen und mich mit Gleichgesinnten vernetzt. Ich habe mir damals unzählige Bücher gekauft und begonnen, die sozialrevolutionäre Geschichte meiner Heimatstadt zu studieren.«
Mit seiner Occupy-Wall-Street-Tour will der junge New Yorker den Geist der Protestbewegung am Leben erhalten und interessierten Besuchern aus aller Welt vermitteln – zuletzt etwa einer Studentengruppe aus dem deutschen Münster.
»Ich habe auch schon Schulklassen bei meiner Tour begrüßt, einige Schüler haben mir dann ein paar Wochen später geschrieben, dass sie nach meiner Tour zum ersten Mal selbst an einer Demonstration teilgenommen haben – das war ein echtes Erfolgserlebnis.«
Die Tourismusbranche sei ein idealer Ort für politischen Aktivismus, eine Sphäre, in der sozialrevolutionäre Theorie und Geschichte unterhaltsam und gleichzeitig bewusstseinsbildend vermittelt werden könne, so Pellagatti. »Und bei den Tour-Gästen kommt mein Stil überraschend gut an, den touristischen Einheitsbrei kann man ja ohnehin woanders nachlesen.«
Der rote Tour-Bus fährt an den Hudson Yards vorbei – einem kürzlich aus dem Boden gestampften und neu eröffneten Luxus-Stadtviertel entlang der 11th Avenue. Mehrere gläserne Wolkenkratzer beheimaten dort Nobelapartments – darunter befindet sich ein riesiges, steriles Einkaufszentrum mit Boutiquen namhafter Marken. Vor dem Eingang ragt eine etwas bizarr anmutende Kunstskulptur in den Himmel, das sogenannte »Vessel«. Sie besteht aus über 150 ineinander verzahnten und protzig verkupferten Treppenaufgängen, die, auf 16 Stockwerke gestapelt, Besucher zum kostenpflichtigen Erklimmen anregen sollen und vom Kritiker der »New York Times« spöttisch als »mistkübelförmiges Treppenhaus ins Nichts« bezeichnet wurde.
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