Kontrovers wurde Ethikunterricht wieder zu Beginn der Neunzigerjahre. Ulrich Hemel, Religionspädagoge in Regensburg, schlug in der führenden österreichischen religionspädagogischen Zeitschrift „Christlich-Pädagogische Blätter“ auch für die Alpenrepublik vor, Ethikunterricht einzuführen. 29In der Bundesrepublik habe sich dieser bewährt, den Religionsunterricht nicht gefährdet und er trage dazu bei, dass sich alle Schüler grundlegende Werte aneignen können. Darauf antwortete – „nüchtern beruhigend“ – die Wiener Religionspädagogin Christine Mann: In Österreich würden die Uhren anders laufen, bei so hohen Teilnahmequoten sei Bedarf nicht gegeben, auch hätten die deutschen (!) Bischöfe gegenüber dem Ethikunterricht Zurückhaltung signalisiert. 30
Aber an der Basis intensivierten sich die Anstrengungen für Ethikunterricht. Der Wiener Religionslehrer Alfred Racek stellte im Namen des Wiener Katholischen Familienverbandes die Forderung: „Ethikunterricht statt Orientierungslosigkeit“ 31, insbesondere aufgrund der hohen Abmeldungsraten an höheren Schulen. Pater Albert Gabriel erarbeitete ein Konzept für einen solchen Unterricht, das an den Menschenrechten orientiert war – und wurde dafür von der kirchlichen Obrigkeit gerügt. 32
Kirche: Ja zu Ethikunterricht, aber nur als Ersatz
Kirche und Politik konnten sich dieser Entwicklung auf Dauer nicht verschließen. Denkwürdig wurde das Treffen der katholischen Schulamtsleiter und einiger Bischöfe im Stift Aigen-Schlägl vom 14. bis 16. Juni 1993, an dem eine oft zitierte Erklärung beschlossen wurde. Es sei zwar nicht die primäre Aufgabe der Schulamtsleiter, „einen solchen Ersatzunterricht einzufordern“, der aber „im Interesse einer humanen Gesellschaft gelegen sein muss“, sodass „kirchlicherseits … die Bereitschaft zu einem konstruktiven Dialog in dieser Frage jederzeit gegeben (ist).“
Ausdrücklich beharrten Kirchenvertreter darauf, Ethikunterricht nur als „Ersatzfach“ gelten zu lassen. Als der Wiener Stadtschulpräsident Kurt Scholz im Jahre 1996 diesen Unterricht als „Alternative“ andachte, handelte er sich Unmut ein, speziell vonseiten des Erzbischöflichen Amtes für Erziehung und Unterricht: „Uns ist wichtig, dass es Ersatzfach genannt wird. Dann sind wir dafür, dass jene Schüler, die sich vom katholischen Religionsunterricht abmelden, dieses andere Pflichtfach besuchen müssen.“ 33Die Bezeichnung „Ersatzfach“ ist symptomatisch für den Hegemonialanspruch der Kirche in ethischer Bildung. Wer spielt schon gern Ersatz? Dieser Anspruch ist umso problematischer, als viele ethische Standards der Moderne – etwa Gewissensfreiheit – der Kirche abgetrotzt werden mussten. Und „Ersatzfach“ – worauf die der Kirche nahestehende ÖVP bis heute drängt – ist insofern problematisch, als Ethik Religion weder ersetzen kann noch will. Und: Ethikunterricht kann für jene Schüler unmöglich ein Ersatz sein, die bekenntnisfrei sind.
In der Folge forderten Kirchenvertreter vom Staat ausdrücklich, sich um die ethische Bildung jener SchülerInnen zu bemühen, die nicht in Religion unterrichtet werden. Allen voran der Wiener Weihbischof Helmut Krätzl, der sich in einem Streitgespräch mit Heide Schmidt darüber „wunderte“, warum der Staat, obschon durch den Zielparagraphen dazu verpflichtet, sich nicht um die ethisch-religiöse Bildung dieser Jugendlichen kümmere. 34
Wie reagierte der Staat, speziell das von der ÖVP geführte Unterrichtsministerium? Zurückhaltend. Beim Symposium „Religionsunterricht mit Zukunft“, das vom 13. bis 14. März 1995 in St. Virgil bei Salzburg stattfand – kurz bevor die Affäre Groër alles überschattete –, verlautbarte Ministerialrat Jonak, Ethikunterricht sei für das BMUK „derzeit kein Thema. Solange die Bischofskonferenz nicht einstimmig entsprechende Forderungen erhebt, wird das BMUK nicht von sich aus tätig werden.“ 35
Die verfahrene Pattsituation demonstriert, wie sehr die ÖVP diesbezüglich auf die Kirche hörte, ja ihr geradezu hörig war. Freimütig bekannte Erhard Busek, der zwischen 1994 und 1995 Unterrichtsminister war, damals sei die Partei kurz davor gestanden, den Ethikunterricht in ihr Grundsatzprogramm aufzunehmen. Doch dann brach die Affäre Groër über die Kirche herein, nachdem der frühere Hollabrunner Internatszögling Josef Hartmann glaubwürdig berichtet hatte, wie sehr er von seinem früheren Religionslehrer sexuell missbraucht worden war, der ihn angeblich in Intimhygiene instruieren wollte. Auf dem Höhepunkt der Diskussion – an der sich einer nicht beteiligte: Kardinal Groër – „wurden diese Fragen – so Busek – gestrichen, um nicht eine weitere innerkirchliche Diskussion zu eröffnen“. 36
Liberale haben es in Österreich schwer, aber trieben Ethik voran
Das Liberale Forum intensivierte die politische Diskussion über Ethik, allen voran Heide Schmidt: „Ich möchte, dass man dem jungen Menschen in einem Ethik- und Religionenunterricht verschiedenste Werte, verschiedenste Religionen vermittelt“, so in einem Streitgespräch mit Schulbischof Krätzl. Die Linie des Liberalen Forums war nicht ganz eindeutig. Gemäß dem Parteiprogramm des Steirischen Liberalen Forums aus dem Jahre 1997 sei „eine Art Wahlpflicht zwischen dem konfessionellen Religionsunterricht und einem konfessionell neutralen Ethikunterricht einzuführen (in den übrigens Religionslehrer durchaus eingebunden werden können)“. 37Ein Zugeständnis, um den Nimbus der Kirchenfeindlichkeit loszuwerden? Im Handout „Die Liberalen und der Religionsunterricht“ wurde befürwortet, dass sich SchülerInnen mit religiösen Inhalten auseinandersetzen. Christian Allesch, für den Inhalt verantwortlich, hielt aber dafür, konfessioneller Religionsunterricht solle „kein Pflichtfach“ sein, und stellte die Vision in den Raum: „Langfristig ist anstelle des konfessionellen Religionsunterrichts die Einrichtung eines Unterrichtsfaches anzustreben, in dem Fragen der Lebensgestaltung, Ethik und Religion unter Mitwirkung der Kirchen behandelt werden.“ 38LER hat sich ja im Bundesland Brandenburg ausgezeichnet bewährt. 39Ab Herbst 1998 stand die offizielle Parteilinie fest: „Die Installierung des Ethikunterrichts fordert die liberale Bundessprecherin Heide Schmidt. Konfessioneller Unterricht sollte als Freifach angeboten werden.“ 40Ein Jahr später scheiterte das Liberale Forum bei der Nationalratswahl. Liberalismus findet in Österreich nach so langer Prägung durch katholische Kirche und Monarchie kaum fruchtbaren Boden.
Was die anderen Parteien anstrebten
Wie positionierten sich, als die ersten Schulversuche vorbereitet und gestartet wurden, die anderen Parteien? 41Die ÖVPstellte sich entschieden hinter den konfessionellen Religionsunterricht und lehnte Ethik anfänglich grundsätzlich ab, um sich dann aber doch dazu durchzuringen, sie als „Ersatzfach“ zu dulden. Am 3. Juli 1997 war in der Presse zu lesen, Ministerin Gehrer zufolge werde Ethik Religionsunterricht nicht ablösen. „‚Nicht, solange ich Ministerin bin.‘ Sonst würden die Kinder in ‚Pseudo-Liberalität‘ aufwachsen. Außerdem vermittle der Religionsunterricht die Kultur eines Landes, meinte die gebürtige Tirolerin.“ 42Eine an Optimismus kaum mehr zu überbietende Sicht, was Religionsunterricht bewirke. Und: Haben Schüler ohne dieses Fach keine Landeskultur? Ethisch nicht hochstehend war, wie ÖVP-Bildungssprecherin Gertrude Brinek Ethikunterricht verulkte: Eine „großteils verführerische und antiaufklärerische Mischung aus Psycho-Fragmenten, schwammigen Ganzheitsansichten, Solidaritäts-Nötigungen, kognitionslosen Bekenntnissen … weder Unterricht noch Erziehung, sondern Ideologie in einem zeitgeistigen Gewande“. 43
Für Ethik als Ersatzfach machte sich Andreas Khol stark, der felsenfest hinter dem Religionsunterricht stand. Sollte dieser, wie vom Liberalen Forum gefordert, abgeschafft werden, „höre ich mit der Politik auf und wandere aus“. 44Aber er gab zu bedenken: „Bis zum Jahr 2010 müsse man damit rechnen, dass 40 Prozent der Schüler keinem religiösen Bekenntnis angehören. Auch ihnen sollten gemäß den Zielen des Schulunterrichtsgesetzes gesellschaftliche Werte vermittelt werden“ 45, allerdings ohne dem Religionsunterricht Konkurrenz zu machen. Aber war und ist die stärkste Konkurrenz eines jeden Unterrichtsgegenstandes nicht eine Freioder Kaffeehausstunde?
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