Ich fand mich, mit einem Riemen ans hintere Ende eines Schlittens festgebunden wie der Affe eines Leierkastenmannes. Ich hielt den Riemen mit beiden Händen, denn er hatte mir schon tiefe Wunden ins Fleisch geschnitten. ›Was ist das?‹ fragten die Hirschmenschen und hielten mir ein Spiel Karten unter die Augen. Das musste auf merkwürdigen Wegen von weißen Leuten über die Meermenschen zu den Hirschmenschen gekommen sein, wahrscheinlich von Walfischfängern. Nun hatte ich als Schuljunge zum Vergnügen meiner Kameraden Kartenkunststücke und ein bisschen Zaubern gelernt. Die alten Kunstfertigkeiten fielen mir plötzlich wieder ein, und ich kann sagen, dass kein Zauberkünstler auf Erden je ein dankbareres Publikum gefunden hat. Im Augenblick wurde ich von einem Ausstellungsgegenstand, der so wenig galt, dass man ihn verhungern und verkommen ließ, ein Mann von unermesslicher Bedeutung. Greise und Frauen kamen zu mir, um sich in ihren Nöten Rat zu holen, dann auch die Männer und zuletzt sogar die Häuptlinge. Es kam mir zustatten, dass ich von Medizin und Chirurgie eine Ahnung hatte, und so wurde ich Wundermann. Vor wenigen Wochen noch Sklave, saß ich jetzt unter den Häuptlingen im höchsten Rat, ich wurde das unwidersprechbare Orakel im Kriege wie im Frieden. Dort oben waren Renntiere das einzige Vermögen, ein Tauschmittel wie bei uns das Gold. Mein Stamm beschäftigte sich hauptsächlich damit, Raubzüge gegen die Nachbarstämme zu unternehmen und ihnen die Renntierherden zu stehlen. Ich brachte meinen Leuten neue Kampfmethoden bei, lehrte sie Kriegskunde und Taktik und verhalf ihren Operationen zu einer Stoßkraft, der die Nachbarstämme nicht widerstehen konnten. So war ich zwar ein Herr, fast ein Halbgott, geworden, aber meine Freiheit gewann ich dadurch nicht wieder. Es klingt lächerlich: ich war zu erfolgreich, ich hatte mich unentbehrlich gemacht. Die Hirschmenschen waren jetzt meine Untertanen, aber sie bewachten mich eifersüchtig. Jeder meiner Befehle wurde befolgt, ich konnte kommen und gehen, wie ich wollte. Aber wenn sich Handelskarawanen an der Küste zeigten, mit denen wir Waren tauschten, durfte ich nicht dabei sein. Unter meinen Häuptlingen war ein einziger, Pi-Une, der sich weigerte, mir die mir zustehenden Ehren zu erweisen. Er rüttelte damit an meiner Allmacht, ich fühlte den Thron unter mir wackeln, denn tatsächlich besaß ich nur so weit Macht, wie man mir Glauben schenkte. Ich war, verstehen Sie das, meine Damen, der Aberglaube des Volkes. Wenn einer an mir zweifelte und der Blitz ihn nicht strafte, konnte ich plötzlich die ganze Macht wieder verlieren und da sein, wo ich angefangen hatte. Um Pi-Une zu besänftigen, blieb mir nichts übrig, als seine Tochter Ilswunga zu heiraten. Darauf bestand er. Ich bot ihm an, lieber als gleichberechtigter Mitkaiser neben mir zu herrschen. Aber davon wollte er nichts hören. Und …«
»Und? Rascher, rascher … so gespannt bin ich in meinem ganzen Leben nicht gewesen!« stieß Frau Sheffield hervor.
»Und so heiratete ich Ilswunga – in der Sprache der Tschautschuins heißt das ›die Hindin‹. Arme Ilswunga! Als ich das letztemal von ihr hörte, war sie in der Mission von Irkutsk, legte Patiencen mit jenem Kartenspiel, das mich zum Kaiser gemacht hatte, und wehrte sich tapfer dagegen, je in ihrem Leben ein Bad zu nehmen.«
»Es ist wirklich schon zehn Uhr!« klagte Frau Sheffield, die von ihrem Mann den zehnten leisen Rippenstoß bekommen hatte. »Wie entsetzlich traurig, dass ich nicht weiter zuhören kann, Herr Gregory. Was dann alles noch kam, und wie Sie entronnen sind. Aber Sie müssen mich besuchen. Ich muss das unbedingt zu Ende hören!«
»Und gerade Sie habe ich für einen Chechaquo gehalten«, sagte Frona, als Gregory sich den Kragen hochschlug und die Ohrenklappen festband. »Morgen Abend müssen Sie wieder zu uns kommen! Wir bereiten eine Theatervorstellung für Weihnachten vor. Kein Mensch kann uns da so wundervoll helfen wie Sie. Alle jungen Leute machen mit, Beamte, Polizeioffiziere, Mineningenieure, und wir haben sogar ein paar hübsche Damen.«
Als er gegangen war, schloss sie die Augen und dachte an ihn: »Was ist das für ein mutiger Mann! Was ist das für ein prachtvoller Mensch!«
Gregory St. Vincent wurde rasch ein wichtiger Faktor im gesellschaftlichen Leben der Stadt Dawson. Er war tatsächlich ein großer Entdeckungsreisender. Eigentlich hatte er überall auf der Erdoberfläche Leben und Kampf beobachtet. Dabei, wenn auf seine Erlebnisse und Kämpfe die Rede kam – wie zurückhaltend und bescheiden!
Überall traf er alte Bekannte, Jacob Welse war ihm im Herbst 1888 in St. Michael begegnet, bevor Gregory den Marsch über das Eis der Beringstraße antrat. Einen Monat später hatte ihn Pater Barnum einige hundert Meilen nördlich von St. Michael getroffen, wo der Missionar die Leitung des ersten Hospitals übernahm. Polizeihauptmann Alexander kannte Gregory von einem Abend der Britischen Gesandtschaft in Peking her.
Besonders bei den Frauen wurde er beliebt. Niemand verstand es wie er, das Programm für einen vergnügten Abend zu entwerfen; es gab keine Gesellschaft ohne ihn. Im Theater hatte er ganz selbstverständlich die Leitung übernommen, er wurde Regisseur und Hauptdarsteller, sodass er Fronas Partner werden musste.
Corliss kam einmal zu einer Probe; er war müde von einer Schlittenreise und blieb nicht lange. Vielleicht ärgerte es ihn auch, zu sehen, wie ihre Rollen die beiden zwangen, sich immer wieder zu umarmen. Die betreffende Szene war so schwierig, dass Gregory sie ein halbes dutzendmal wiederholen ließ. Jedenfalls kam Corliss nie wieder zu einer Probe.
Corliss hatte sehr viel Arbeit. Wenn er Geselligkeit suchte, tat er sich jetzt mit Jacob Welse und Oberst Trethaway zusammen. Er lernte ununterbrochen, auf seinen Schlitten reisend und im Gespräch mit den bewährten Pionieren, denn er hatte herausgefunden, dass sein ganzes Wissen bisher Theorie war. Seine große Gründung, an der Jacob Welse sich auch mit einigen Millionen beteiligte, bedingte praktische Grundlagen. Corliss wunderte sich selbst, dass es in London Leute gab, die ihm eine so verantwortliche Aufgabe und große Kapitalien anvertraut hatten, ehe er noch eine Ahnung gehabt, um was es sich eigentlich handelte.
»Sie haben Protektion, mein Junge!« lachte Trethaway. »Protektion ist ganz gut für den Anfang. Aber jetzt sollen die Kerls auch merken, dass Sie wirklich was leisten.«
Del Bishops Aufgabe bestand darin, nach den Anordnungen seines Chefs die verschiedenen Flüsse zu bereisen, wozu ihm die beste Ausrüstung und ein prachtvolles Hundegespann zur Verfügung standen. Er war ein hervorragender Kundschafter, aber vor allem vergaß er über den Interessen der Gesellschaft nicht, für sich privat Ausschau nach neuen Fundstellen zu halten. Sein Wissen sollte ihm zustatten kommen, wenn er im Sommer wieder auf eigene Faust auf die Goldsuche ging.
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