So sehr Lechner auch am Apparat kurbelt, es meldet sich niemand mehr.
Wie betäubt hockt Lechner vor dem Fernsprechgerät. Die Gedanken überschlagen sich. Was ist passiert? Was ist bei der Kompanie los? Sind denn alle besoffen? Haben alle den Verstand verloren?
„Alarm!“, schreit Lechner, und die Schläfer sausen aus den Decken. „Pionierzug antreten. Alles mitnehmen! Los, Riebl, Unteroffizier Lehmann und die anderen verständigen: alles mit Waffen und Klamotten antreten!“
„Was’n los?“, fragen die Soldaten. „Ist der Iwan schon da?“
Der Zug tritt an.
Es schneit noch immer, aber nicht mehr so dicht. Das feindliche Artilleriefeuer ist verstummt. Aus Richtung Rawa hört man MG-Stöße. Sie klingen fern und stotternd.
„Etwas stimmt nicht, Kameraden“, sagt Lechner, als der Zug mit sämtlichen Waffen angetreten ist. „Der Kompaniegefechtsstand meldet sich nicht mehr, aber es ist trotzdem jemand dort. Der Huber … ich weiß nicht … Na ja, wir werden ja sehen. – Rechtsum – ohne Tritt marsch!“
Schweigend verschwindet der Zug über den Hang und trabt im Gänsemarsch durch die Nacht.
„Was da wieder los ist“, sagt Willi zu Emmes.
„Wir werden ja sehen, hat der Sepp Lechner gesagt“, erwidert Emmes.
Als der Pionierzug beim Kompaniegefechtsstand ankommt, schneit es nur noch dünn. In Rawa flackert Schützenfeuer, zwischendurch kleckert ein MG.
„Wartet hier“, sagt Lechner zu seinen Leuten und verschwindet auf der in den Bunker führenden Treppe.
„Mensch“, sagt jemand, „da kennt sich ja kein Aas mehr aus.“
Eine andere Stimme erwidert: „Vielleicht pennen sie alle.“
Lechner reißt die Zeltbahn vom Eingang. Der Bunker ist leer. Auf dem Tisch flackert ein Hindenburglicht. Die Karte liegt noch da, darauf die mit bunten Nadeln abgesteckte Frontlinie. Die beiden MG-Tische vor den Schießscharten sind leer. Am Boden liegt ein einsamer Stahlhelm.
Als Lechner einen Schritt tut, kollert etwas vor der Fußspitze: eine leere Schnapsflasche. Und der Raum riecht nach Alkohol, nach kaltem Zigarrenrauch.
Lechner wischt mit dem Fäustling unter der Nase weg und schüttelt benommen den Kopf.
„He!“, ruft er dann. „Hallo!“
Da ertönt aus dem Hintergrund ein Grunzton. Unter einem Deckenhaufen liegt Emil Huber, der Spieß, betrunken. Total betrunken. Ohne Stiefel. Halb angezogen. Der Fernsprechapparat steht neben dem Lager; der Hörer liegt am Boden, wie er aus der Hand gefallen ist.
Mit drei langen Schritten ist Lechner heran, packt Huber grob am Kragen und zerrt ihn hoch.
„Huber, du besoffenes Schwein! Los, auf! Mach’s Maul auf! Was ist hier vorgegangen?“ Er beutelt den schweren Mann.
Huber reißt mühsam die kleinen Äuglein auf, guckt sich verwirrt um, lallt etwas und schmatzt mit den Lippen. Dann will er sich wieder hinlegen, aber Lechner stellt ihn mit einem Fluch auf die wackeligen Beine.
„Mach’s Maul endlich auf, du Nachtwächter, du besoffener!“, schreit er so laut, dass es die draußen stehenden Soldaten hören.
Schritte poltern die Treppe herunter. Lehmann und noch ein paar vom Zug kommen herein und gucken verdutzt auf das seltsame Bild.
„Was ist denn los, Sepp?“, fragt Lehmann und kommt rasch heran.
„Du siehst es ja“, schnaubt Lechner. „Fort sind sie alle. Bloß den da haben sie hier gelassen. – Huber, Mensch, nun rede doch schon!“
Huber ist jetzt einigermaßen wach. Er rülpst und blinzelt verwirrt um sich. Sein grauer Schnauzer hängt traurig herab, das struppige Haar stachelt um den runden Kopf.
„Seppei …“, lallt er jetzt, „ach … du bist’s …“
„Wo sind die andern?“, fragt Lechner ungeduldig. „Wo ist der Chef … der Zinnenberg … wo sind sie hin?“
Huber guckt sich verwundert um, fährt sich mit der fleischigen Hand über Gesicht und Haare.
„Marandjosef“, stammelt er, „i bin ja alloan da!“
„Was war los?“
„I … i woass nix, Seppei …“, grient Huber und torkelt auf den Tisch zu. „Herrschaftsseiten … wenn ich nur wüsst’ … mein Kopf brummt wie a Bienenstock …“
„Du musst doch wissen, was hier los war!“, schnaubt Lechner zornig und versetzt dem dicken Münchner einen Stoß.
„G’soffa hab’n ma“, lallt Huber. „Ich woaß nur noch, dass wir g’soffa hab’n …“ Er sinkt auf den Klappstuhl und reibt sich mit den dicken Händen das Gesicht, um nüchtern zu werden.
„Das ist vielleicht eine Sauerei“, sagt Lehmann zu Lechner. „Die sind alle abgehauen – und den haben sie einfach dagelassen.“ Lehmann zeigt auf Huber, der sich langsam umdreht und blöd die beiden anstarrt.
„Jessas“, lallt er, „jetzt … jetzt merk ich endlich, was g’scheh’n is … Z’ruckg’lassen haben mich die Bazi, die dreckerten! Einfach davon san’s, die staubigen Brüder die!“ Er stemmt sich hoch und torkelt auf Lechner zu. „Mensch, Seppei – i dank’ dir, dass du gekommen bist!“
„Ist irgendein Befehl eingetroffen?“, fragt Lechner hastig.
„I woass von nix. Ich hab bloß g’soffa … dann hab i mi hing’legt und bin eing’schlafa.“
„Menschenskinder“, murmelt Lehmann, „man sollt es nicht für möglich halten.“
„Also abgehauen“, murmelt Lechner kopfschüttelnd. „Einfach abgehauen, ohne uns etwas zu sagen … wie die Schweine vom Trog.“ Er wendet sich Huber zu. „Los, zieh dich an, du Nachtwächter! Stahlhelm auf! Knarre mitnehmen! Du kommst jetzt mit uns.“
Huber nickt eifrig; er scheint plötzlich nüchtern geworden zu sein. „Bin glei fertig, Seppei … glei … Marandjosef, Marandjosef“, murmelt er, als er sich anzieht. „Fort san’s alle, die Bazi … zurückg’lassen habn’s mi …“
Wenn die Situation nicht so ernst wäre, man könnte lachen. Der Krieg spielt mit den Menschen wie mit Puppen.
Zehn Minuten nach dem Geschehnis im Bunker Nordstern trabt der Pionierzug im Gänsemarsch nach Rawa. Das Lachen ist verstummt, keiner spricht. Man denkt an die Herren, die sich leise aus dem Staub gemacht oder sich sonst wie in Sicherheit gebracht haben; man weiß nichts von der Lage; man ist sich nur über eins klar: Es wird auf Biegen oder Brechen gehen; man will leben.
Der Pionierzug ist genau 38 Mann stark und in drei Gruppen aufgegliedert. Die Männer sind schwer bewaffnet. Die fünf MG stellen eine beachtliche Feuerkraft dar, ganz abgesehen davon, dass jeder noch zwei Panzerfäuste neuester Ausführung und eine Menge Handgranaten mit sich führt.
Huber trabt mit und bildet den Schluss. Der Münchener ist jetzt nüchtern und fragt sich noch immer, wie alles kam. Ein unerhörtes Glück hat der Metzger gehabt! Darüber sind sich alle einig.
Seit Lechner vor dem ungelösten Rätsel über das spurlose Verschwinden der 5. Kompanie steht, ist er fest entschlossen, keinerlei Rücksicht mehr zu nehmen und den Anschluss an die abgerückten Einheiten zu finden.
Wieder einmal hat man alles zurückgelassen, wofür man Kraft, Schlaf und monatelange Arbeit hergegeben hat. Wieder einmal geht es um die zwei großen Probleme dieser Zeit: Freiheit oder Tod.
Sie wollen in die Freiheit zurück, die weit von ihnen abgerückt zu sein scheint.
In der Stadt ist es still. Der feindliche Artilleriebeschuss hat sich nördlich Rawa konzentriert und erweckt die Meinung, dass der Feind die Stadt in seinem Besitz wähnt.
Sie ist es anscheinend noch nicht ganz.
Trrrrr … trr … ertönt es in schnellem Rhythmus.
„Das sind die Unseren“, sagt Lechner leise zu Lehmann, der dicht hinter ihm geht, „aber sie sind schon aus der Stadt.“
„Wir müssen schau’n, dass wir durchkommen, Sepp.“
„Na klar – irgendwo wird schon ’ne Lücke sein.“
Sie nähern sich dem Panzergraben, der um die Stadt herumführt.
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