»Habt ihr nicht«, erklang eine Stimme in akzentfreiem Englisch. »P…«
»Contego!«
Blitzschnell erschien eine wabernde Sphäre direkt in der Luft. Ally war selbst überrascht, hatte einfach nach dem nächstbesten Gedanken gegriffen, der sich ihr bot.
»Du willst tatsächlich eine Abgesandte des Rates angreifen? Ich werde dich direkt in die La Maison de Conseil bringen.«
Ally registrierte den funklenden Stein vor der Brust der Frau, der einen Teil der Worte übersetze, jedoch nicht alle. Auch der Holzstab in ihrer Hand strahlte etwas aus, das Ally nicht beschreiben konnte. Es war fremd und doch vertraut.
»Wir sind Besucher«, erklärte Harry. »Und wir besitzen nichts. Es war Not, die uns …«
»Erspart mir das Lamento«, unterbrach die Rothaarige. »Ich habe alles schon einmal gehört. Seid ihr Teil der Goules de la Magie?«
Verwirrt schüttelte Ally den Kopf, hielt dem Blick der Fremden jedoch stand. »Wir wissen nicht, was das ist.«
»Du bist eine magicienne, sicher leidest du keinen Hunger.«
»Ich kann das alles erst seit Kurzem und es hat mir niemand erklärt. Es gibt nur diese Worte in meinem Kopf. Es tut mir leid, wenn wir eine Regel verletzt haben.«
»Nouvelle magicienne«, hauchte die Fremde. »Das Erbe ist in dir erwacht, wieso wurdest du nicht gesucht?« Sie ließ ihren Stab sinken. »Aber selbst als Ordinäre musst du doch wissen, dass Marktstände Magiedetektoren besitzen, um vor Diebstahl oder leerem Bernstein zu schützen.«
»Wir sind ländlich aufgewachsen«, erklärte Harry.
»Du bist kein magicien?«
Harry schüttelte den Kopf.
»Er ist mein Bruder«, sagte Ally. »Vielleicht kommt es bei ihm später?«
Die Rothaarige lachte auf. »Du weißt wirklich nichts, ma petit magicienne. Die Ehre wird nicht durch Familienblut bestimmt. Wir sind nicht wie die degenerierten Blaublüter, die sich für Könige halten und ständig Dummheiten begehen. Die hohe Macht sucht sich die Würdigen. Doch als Bruder der magicienne hast auch du einen besonderen Stand. Ich bin Rousele Dubois.«
»Erfreut«, sagte Ally.
Harry nickte schweigend.
»Ihr seid also ländlich aufgewachsen?«, spürte Rousele nach. »Aber nicht hier in Frankreich.«
Hatten Frankreich und England in dieser Zeit problematische Beziehungen? Ally erinnerte sich dunkel daran, dass sie das fast immer gehabt hatten.
»Wir wurden hier geboren«, sprang Harry schnell ein. »Aber nach dem Tod unserer Mutter nahm unser Vater uns mit nach England. Wir wollten zurück und sind gerade angekommen.«
Auf diese Art machten sie sich zu gebürtigen Franzosen, ihre Geschichte war nicht prüfbar. Sie wollte ihren Bruder herzen.
»Die richtige Entscheidung, das ist sicher.« Rousele schob ihren Essenzstab in eine Schlaufe am Kleid. »Ich werde darüber hinwegsehen, dass du das Gesetz gebrochen hast.«
»Das ist sehr freundlich, danke.«
Rousele lächelte. »Danke mir nicht zu schnell, ma petite magicienne. Ich nehme dich mit ins La Maison du Conseil.«
»Das Haus des Rates?«
»Jemand muss dich mit deiner Macht vertraut machen, sonst kann das böse Folgen haben«, erklärte Rousele. »Du scheinst nicht einmal etwas über Bernsteinkörner zu wissen. Womit wolltet ihr hier bezahlen?«
»Gold«, schlug Harry vor.
Rousele brach in schallendes Gelächter aus. »Ihr seid drollig. Was sollte ein Verkäufer mit den wertlosen Klumpen anfangen?«
Ally verstand immer weniger, was hier vor sich ging. Die Geschichte ähnelte in keiner Form jener in den Büchern. War das hier vielleicht ein separierter Teil von Frankreich, der erst später durch einen Krieg die Regeln des Rests übernommen hatte? Oftmals schrieben die Sieger die Geschichte um.
»Wir kommen gerne mit«, sagte Ally.
»Ma petit magicienne, du hast keine Wahl.« Rousele zwinkerte.
Sie war auf seltsame Art freundlich, aber auch aufdringlich. Forsch, doch liebenswert. Wie eine Kanonenkugel, auf die jemand ein Lächeln gemalt hatte.
Die französische Magierin führte sie durch die Straßen und Gassen von Paris, vorbei an der Seine und über Brücken. Die Geschäfte wandelten sich, ebenso die Häuser. Der Müll verschwand von den Straßen, und eine gute Stunde später schritten sie über Gehsteige, die mit weißem Gestein ausgekleidet waren.
»Hier ist es so sauber«, flüsterte Ally.
»Natürlich, wir sind doch keine der Ordinären«, stellte Rousele klar. »Unsere Magier achten auf Reinheit.«
»Aber wieso nicht für die ganze Stadt?«, fragte Harry.
»Das würde unseren Wert schmälern«, erklärte Rousele, wenn auch nicht so offen wie Ally gegenüber. »Die Währung dieser Stadt ist – wie überall auf der Welt – Bernstein. Wir Magier befüllen ihn mit Essenz, damit auch die Ordinären Magie wirken können. Bieten wir unser Können aber frei an, würde doch niemand mehr Bernsteine benötigen.«
Magie war also etwas Kostbares, das irgendwie mit Bernsteinen auch an Nichtmagier gegeben werden konnte.
»Wieso reinigen die ›Ordinären‹ dann nicht ihre Straßen damit?«, fragte Harry.
»Wenn ich dir Magie übergebe, genug für einen Zauber, vielleicht zwei: Würdest du sie dafür benutzen, die Straßen zu säubern?«
Harry dachte kurz nach, schüttelte aber verstehend den Kopf. »Auf keinen Fall.«
Ally begriff, dass sie plötzlich zu einem privilegierten Kreis gehörte. Ihr Können war kostbar.
Sie wollte mehr erfahren.
Schweigend ging Harry neben ihr her.
Das Haus des Rates erwies sich als prunkvoller Bau. Er lag am weitesten Punkt entfernt vom hiesigen Palast des Königs und bildete damit einen zweiten Pfeiler der Macht in der Stadt.
Ally starrte überwältigt auf das gewaltige Bauwerk aus weißem Stein, das aus einem Dutzend Häusern zusammengesetzt worden war. Ein Gebäude ging in das nächste über. Ringsum war ein simpler Zaun angebracht, doch das Metall schimmerte leicht. Symbole waren darauf zu erkennen. Hinter der Barriere standen dicke Pfeiler aus Bernstein, die golden glühten.
Sie sah Männer und Frauen auf Pferden, wunderschöne Wälder und lachende Gesichter.
So viel Unbeschwertheit und Luxus hatte sie noch nie zuvor gesehen. Hier schienen der allgegenwärtige Kampf, das Blut, Bomben und Hass nicht zu existieren.
Unweigerlich fragte sie sich, ob die Französische Revolution auch die Kluft zwischen den Magiern geöffnet hatte. Oder genauer: eines Tages öffnen würde.
»Ich werde einem der Ratsmitglieder eine Nachricht überbringen«, erklärte Rousele. »Nach der Katastrophe von Glamis Castle wird es aber wohl einige Zeit dauern, bis jemand hier ist. Hoffentlich kommt Kleopatra, ich finde sie wahrlich erfrischend.«
»Kleopatra«, echote Harry. »Ist das vielleicht … ein Künstlername?«
Rousele wirkte verwirrt. »Ich verstehe die Frage nicht.«
»Was ist denn in Glamis Castle passiert?«, fragte Ally schnell.
»Es ist wahrlich eine seltsame Geschichte. Wir erhielten eine Warnung von Kleopatra. Der Hauptsitz des Rates wurde angegriffen, sie nutzte die Türübergänge mithilfe der Archivarin dazu, alle Bewohner zu evakuieren. Kurz darauf zerriss ein Zauber das Gebäude. Niemand kam zu Tode. Nur die da Vincis sind noch etwas mitgenommen, ihr Sohn ist gestorben.«
»Die da Vincis?«, krächzte Harry.
»Ich meine natürlich Leonardo da Vinci und Johanna von Orleans«, erklärte Rousele und winkte ab. »Für mich sind das nur die da Vincis.«
»Klar«, Harry lachte auf. »Total verständlich.«
Rousele hob ihren Essenzstab. »Ouvre.«
Das Tor öffnete sich.
Gemeinsam betraten sie einen geschwungenen Weg aus weißem Gestein, der von frisch geschnittenem Rasen umgeben war. Farbige Blüten reckten ihre Kelche gen Himmel.
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