Jörg Steinert
Pilgerwahnsinn
Warum der Jakobsweg süchtig macht
Notizen von unterwegs
Patmos Verlag
VIELE WEGE FÜHREN NACH SANTIAGO
1 WIE ICH PILGER WURDE
Bonding statt Pilgern
Anfängerglück
2 AUF DEM KÜSTENWEG: ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND ZWEIFEL
Überfüllte Herbergen
Schnauze voll, ich breche ab
Wenn du weit kommen willst, dann geh zusammen
Wie katholisch ist der Jakobsweg?
Die Ankunft in Santiago
3 BIS ANS ENDE DER WELT
Der Pilgertod
Zurück in Deutschland
4 TAUSEND KILOMETER ZU MIR SELBST
Niemand geht den Weg zufällig
¡Buenos días! Ich spreche kein Spanisch
Luxusartikel im Gepäck
Jeder Schritt tut weh
Blinddate in Santiago
5 AUF KURZEN UND LANGEN WEGEN NACH SANTIAGO
Auf dem Weg für Anfänger gescheitert
Wie lang muss eine Pilgerreise sein?
6 SECHS WOCHEN AUF DEM CAMINO
Pilgerprofis
Das Glück finden
Nicht schon wieder Bettwanzen
„Camino is not holiday“
Im Schlafsaal
Jesus didn’t start in Sarria
7 AUF DEM MEISTGELAUFENEN WEG
Die Sehnsucht nach Freiheit
Mr. Monk und die Bettwanzen
No Vino, no Camino
Pilgerfieber
8 UNTERWEGS MIT SEYRAN ATEŞ
Die Stalkerin
Mit Personenschutz auf dem Jakobsweg
Weg der Liebe
Die Zukunft des Weges
DANKSAGUNG
Landkarte
Über den Autor
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
VIELE WEGE FÜHREN NACH SANTIAGO
Warum fühle ich mich ausgerechnet auf einem überlaufenen katholischen Pilgerweg so geborgen? Ich ostdeutscher Protestant und papstkritischer Geschäftsführer einer Lesben- und Schwulenorganisation. Ich, der Fremdsprachen nur schlecht beherrscht, seinen Feierabend am liebsten mit Netflix-Serien verbringt und sich vor Bettwanzen total ekelt.
Erstaunte Blicke sind mir nicht fremd, wenn ich von meinen zahlreichen Reisen auf dem Jakobsweg berichte. „Du bist den ganzen Weg gelaufen?“, lautet dabei die häufigste Frage. Nein, ich bin nicht zu Hause losgelaufen. Denn genau dort beginnt nämlich der Jakobsweg. Vor der eigenen Haustür.
Auch gibt es nicht den „einen“ Weg nach Santiago de Compostela, sondern eine Vielzahl an Möglichkeiten. Natürlich gibt es Haupttrassen, je näher man der sagenumwobenen Stadt im Nordwesten Spaniens kommt. Der bekannteste Hauptweg ist der Camino Francés, der an den Pyrenäen beginnt und dann 800 Kilometer durch verschiedene Regionen Spaniens führt.
Immer mehr Menschen aus der ganzen Welt pilgern wieder auf Jakobswegen nach Santiago zum Grab des Apostels Jakobus. Im Jahr 1973 wurde die Ankunft von nur 37 Pilgern registriert. Im Jahr 2019 waren es über 340.000 Frauen, Männer und Kinder.
Der Jakobsweg gehört zu den großen Abenteuern unserer Zeit. Ungefährlich, aber aufregend. Anstrengend und zugleich genussvoll.
Der Camino, so nennt man den Jakobsweg in Spanien, macht süchtig. Aber was genau gibt einem der Weg, von dem alle reden? Der Weg, auf dem Menschen nach einer schweren Lebenskrise Kraft tanken. Der Weg, der ein willkommenes Kontrastprogramm zum beschleunigten Alltag darstellt.
Gemäß einem Sprichwort pilgert man nach Jerusalem, um Jesus zu finden, und nach Rom, um auf den Spuren von Petrus zu wandeln. Auf dem Weg nach Santiago findet man aber vor allem sich selbst.
Meine erste Pilgerreise war trotz eines holprigen Starts unbeschreiblich schön und fühlte sich wie das Paradies auf Erden an. Beim zweiten Mal ging sehr viel schief, die Voraussetzung für ein noch größeres Abenteuer. Jeder weitere Weg war anders und brachte mir jeweils nicht das, was ich suchte, sondern was ich brauchte. Egal wie groß die Frustrationsmomente zwischendurch auch waren, am Ende strahlten meine Augen vor Glück.
Zu Fuß in der Fremde unterwegs sein. Meist allein, aber nicht einsam. Das ist der Jakobsweg.
1 WIE ICH PILGER WURDE
Bonding statt Pilgern
Das ist also der Jakobsweg?“, fragte ich mich. Da lag ich, auf dem Fußboden einer spanischen Ferienwohnung. Unter mir eine Frau, die weinte, weil ich sie an ihren Ex-Ehemann erinnerte. Das Ganze war Teil einer Übung namens Bonding. Warum hatte ich diese absurde Selbsterfahrungs-Reisegruppe gebucht? Warum wollte ich unbedingt auf den Jakobsweg? Wie konnte es so weit kommen, dass ich als schwuler Mann auf einer weinenden Frau liege?!
Ich war noch nie besonders sportlich, religiös oder spirituell. Und ich wollte bloß keine Veränderungen in meinem Leben. Alles wie gewohnt. Alles wie geplant. Abweichungen von meinen konkreten Erwartungen verursachten immer große Enttäuschungen. Vielleicht ist es bis heute deshalb ein so großes Abenteuer für mich, den Jakobsweg zu entdecken. Am Morgen weiß ich noch nicht mit Gewissheit, wo ich abends schlafen werde und wie weit mich meine Füße tragen.
Hätte jemand vor dem Jahr 2014 die Vermutung geäußert, dass ich mich auf den Camino de Santiago, also den Jakobsweg, einlasse, hätte ich sie oder ihn vermutlich für verrückt erklärt. Doch meine Studienfreundin Madeleine, die ich einige Jahre aus den Augen verloren hatte, erzählte mir im Oktober 2014 von ihrer Pilgerreise. Für mich war der Weg bis dahin nicht besonders reizvoll. Mich faszinierte jedoch, dass sich eine moderne Großstädterin, deren früherer Schulweg der Berliner Kurfürstendamm war, so offen darauf eingelassen hatte.
Einige Tage nach dem Gespräch mit Madeleine ging ich in eine Buchhandlung und musste feststellen, wie viele Bücher es über den Jakobsweg gibt. Ungeduldig griff ich mir schließlich das Buch mit dem schönsten Coverbild und kaufte es. Ein Buch über den Camino del Norte, der entlang der spanischen Atlantikküste verläuft.
Es schien wenig wahrscheinlich, dass mein damaliger Partner mich begleitet. Er war zwar fit und kulturell interessiert, aber er konnte sich nicht für das Wandern begeistern und unsere Beziehung stand sowieso kurz vor dem Aus. Also entschied ich mich, diese Reise unabhängig von ihm anzutreten.
Noch nie zuvor in meinem Leben hatte ich allein Urlaub gemacht, immer im Schlepptau von Familie, Freunden oder Partner. Von Rucksacktourismus ganz zu schweigen. Daher war ich ganz froh, als ich auf einer sehr ansprechenden Internetseite über den Jakobsweg ein Angebot für eine angeleitete Gruppenreise fand.
Eigentlich richtete sich die Reise an sehr junge Erwachsene, zu denen ich mit meinen 33 Jahren laut Reiseangebot nicht mehr gehörte. Trotzdem fragte ich beim Anbieter nach. Wir vereinbarten einen Telefontermin. Ich kam mir dabei vor wie bei einem Bewerbungsgespräch. Aber entscheidend war das Ergebnis: Ich durfte mit.
Wenige Monate später, es war inzwischen Anfang April, saß ich auf dem Flughafen von Bilbao und wartete auf die anderen Mitreisenden. Ich war so erleichtert, als ich mitbekam, dass weder die Frauen noch die Männer der beworbenen Altersgruppe entsprachen. Mit Bus und Bahn ging es gemeinsam nach Irun, von dort zu Fuß ins bezaubernde Hondarribia. Unser Reisebegleiter machte einen etwas verwirrten Eindruck. Aber ich dachte mir nichts weiter dabei.
Wir hatten eine zentral gelegene Ferienwohnung, direkt im Ortskern. Doch erst einmal entbrannte eine Diskussion darüber, wer welches Bett bekommt. Ich war davon ausgegangen, dass jeder sein eigenes Zimmer hat. Fehlanzeige. Im Angebot waren Mehrbettzimmer und sogar ein Doppelbett. Ich nahm ein Kinderbett in einem Durchgangszimmer. Hauptsache allein. Und der Blick über die Bucht nach Frankreich war einfach großartig.
Am nächsten Morgen fanden wir uns in einem Stuhlkreis wieder und sprachen über Lebenskrisen. Mir schien das alles unangemessen intim. Aber ich wollte kein Spielverderber sein und machte mit. Mich selbst beschäftigte gerade das Ende meiner Beziehung.
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