Gegen Mittag wurden schließlich Körperübungen angekündigt. „Na endlich“, dachte ich mir und erwartete Wandervorbereitungen und hilfreiche Tipps. Stattdessen wurde uns Bonding vorgestellt. Von der Sexualpraktik Bondage hatte natürlich jeder von uns schon gehört. Aber Bonding?
Unser etwa 29-jähriger Reisebegleiter, ein kleiner muskulöser Mann, der nach Schweiß roch, erläuterte uns, dass wir Paare bilden müssten. Dann würde sich eine Person auf den Fußboden legen und die andere Person auf sie drauf. Während alle anderen schwiegen, verschränkte ich die Arme vor meinem Oberkörper und sagte etwas patzig: „Nein!“ Ich wollte das nicht machen. Alle anderen stimmten mir zu. Wir wurden um eine Pause gebeten.
Während der Pause entschieden sich alle um. Jetzt waren wir einmal hier, dann könnten wir uns auch auf die Übung einlassen. Eine sehr sympathische Frau, mit der ich mich von Anfang an gut verstand, fragte mich, ob wir die Übung zusammen machen würden. Ich war so erleichtert. Denn einige andere Mitreisende fand ich etwas bizarr. Da waren ein junger Mann, der sich an traumatisierende Erfahrungen als Säugling zu erinnern meinte, eine junge Frau, die vor allem verunsichert schien, und ein frommer Mann mittleren Alters mit Bibel und Gebetbüchern im Gepäck.
Bevor die Übung losging, vergewisserte ich mich, keine Schweißflecken unter den Armen zu haben. Schließlich hatte ich die ganze Zeit ein negatives Beispiel vor Augen. Ich erinnere mich nicht mehr an den Namen der netten Frau. Aber sie sollte zuerst unten liegen. Ganz vorsichtig legte ich mich auf sie. Eigentlich sollte die Übung der Entspannung dienen, aber ich war total angespannt, weil ich die zierliche Person unter mir nicht verletzen wollte. Und dann das. Sie fing an zu weinen. Hilflos wusste ich nicht, was ich tun sollte. Der Bonding-Guru kam zu uns, streichelte ihre Schulter und fragte sie, warum sie weinen müsse. Sie antwortete, dass ich sie an ihren Mann erinnern würde, den sie nach zwanzig Ehejahren erst kürzlich verlassen hatte.
Noch während wir dalagen, beschloss ich, dem Spuk ein Ende zu machen. Nicht sofort. Ja keine Szene machen. Aber meinen Urlaub wollte ich keinen weiteren Tag in dieser Gruppe mit diesen skurrilen Aktivitäten verbringen.
Es war etwa 5 Uhr morgens am nächsten Tag, als ich aufwachte. Es war dunkel und ruhig, ich konnte die Lichter in Frankreich sehen. Als Erstes musste ich feststellen, dass mein Gepäck nicht in meinen Rucksack passte, wenn ich auch Wasser und Essen mit mir führen wollte. Ich begann daher, einige mitgebrachte Kleidungsstücke zu entsorgen, auch wenn es mir widerstrebte. Ich konnte das unmöglich alles mit mir schleppen. Als ich die Tür der Ferienwohnung gegen 6 Uhr leise hinter mir schloss, wusste ich, dass es kein Zurück geben würde. Schließlich hatte ich keinen Schlüssel.
Das morgendliche Hondarribia glich einem Gemälde. Die Straßenlaternen dieses historischen Ortes leuchteten. Das nasse Kopfsteinpflaster reflektierte das warme Licht. Es war nur ein kurzer Stadtspaziergang. Am Rande des Ortes suchte ich mit Mühe die ersten gelben Pfeile, die den Weg nach Santiago weisen, und lief den Berg nach oben. Etwa zwei Stunden, bei Dunkelheit, Regen und ganz viel Matsch. Zum Glück hatte ich eine Stirnlampe dabei.
Es war ein beschwerlicher Weg. Und an der ersten Wegkreuzung, es wurde inzwischen heller, fragte ich mich, wohin ich laufen sollte. Den normalen Weg oder die schwere Variante, die bei schlechtem Wetter nicht empfohlen wird. Trotz starkem Regen entschied ich mich für die steile Variante. Ich kam mir vor wie ein großer Abenteurer. Und ein bisschen plagte mich auch ein schlechtes Gewissen, da ich der Pilgergruppe nicht mal eine Nachricht hinterlassen hatte. Was würden sie denken? Ich wollte natürlich auch nicht, dass sich irgendjemand Sorgen macht. Aber egal, der Weg war einfach zu mühsam, ich konnte mir darüber jetzt keine Gedanken machen.
Auf der Spitze des Berges kam ich gegen 8 Uhr morgens an. Durchgeschwitzt. Nass vom Regen. Schmutzig vom Schlamm. Aber auch ein fantastischer Ausblick auf Hondarribia, die baskische Perle in Spanien, sowie auf die französische Küste und den Atlantik. Ich griff zu meinem Mobiltelefon und rief meine Eltern an. Ich wollte mich mitteilen. Doch die Geschichte vom Bonding und der Flucht hätten einen zu besorgniserregenden Eindruck hinterlassen. Im Ergebnis brachte ich daher nur die Aussage heraus: „So schön habe ich es mir nicht vorgestellt. Es ist wunderschön.“
Sven, das war der Mann mit Bibel und Gebetbüchern, war inzwischen auch unterwegs. Er fragte mich per SMS ziemlich direkt, ob ich geflohen sei. Was ich nur bestätigen konnte. Auch er hatte die Schnauze voll und plante kein Wiedersehen mit der Gruppe in der nächsten Pilgerherberge.
Sowohl Sven als auch ich beschlossen, aus zwei Tagesetappen eine zu machen. Hauptsache Abstand zwischen uns und die Bonding-Gruppe bringen. Wir trafen uns am Abend in der Jugendherberge im schicken San Sebastián wieder. Und da gerade Ostern war, hatten wir großes Glück, die letzten Betten zu ergattern.
Sven und ich hatten nicht viel gemein. Er war Mitte 40, heterosexuell, sehr gläubig, ein gestandener sportlicher Typ und ein ziemlicher Macho. Aber die gemeinsame Flucht einte uns.
Eine wichtige Lektion hatte ich bereits gelernt. Du kannst Pech haben im Leben. Aber entscheidend ist, wie du damit umgehst. Natürlich ärgerte es mich, dass wir abgezockt worden waren. Aber während Sven darüber nachdachte, wie er sich das für die Gruppenreise gezahlte Geld zurückholen könnte, war ich vor allem froh darüber, dass ich mir keine weitere Lebenszeit rauben ließ.
Am nächsten Morgen liefen Sven und ich gemeinsam weiter. Auf dem Weg begegneten wir auch den ersten anderen Pilgerinnen und Pilgern, darunter Matis – ein Aussteiger aus München, der seinen Job und seine Wohnung gekündigt hatte. Der charmante Matis verdrehte Frauen wie Männern, auf ganz unterschiedliche Art und Weise, den Kopf. Als er jedoch von den Stimmen in seinem Kopf erzählte, ging ich sofort auf Distanz. „Nicht noch mehr wirres Zeug“, dachte ich mir. Sven störte sich weniger daran. Wer felsenfest an Gott glaubt, zweifelt vielleicht auch nicht an Stimmen im Kopf – so meine damalige These. Ich wollte damit aber nichts zu tun haben.
Inzwischen hatten sich Sven und ich auch ordnungsgemäß von unserer Reisegruppe abgemeldet. Da wir am Tag zuvor eine beachtliche Strecke zurückgelegt hatten, wollte Sven nur bis ins 14 Kilometer entfernte Orio laufen. Matis wollte auf jeden Fall weiter. Ich war noch unentschlossen. Aber auch ich machte wie Sven bei „Mama Camino“, so nennt man die Herbergsmutter Rosa, Halt. Die Herberge war eine frühere Garage, liebevoll hergerichtet. Wir wuschen unsere Wäsche mit der Hand, wrangen sie gemeinsam aus, beobachteten sie beim Trocknen im Wind und genossen die Frühlingssonne.
José, ein spanischer Pilger, wollte immer wieder mit uns ins Gespräch kommen. Da er aber kein Englisch sprach und wir kein Spanisch, war dies kaum möglich. Wir verstanden uns trotzdem gut. José faszinierte an mir, dass ich nach nur zwei Pilgertagen schon so viel Wäsche auf der Leine hatte – und überhaupt so viele Wechselkleidung mit mir führte.
Später am Nachmittag trafen Renate, Maria und Christine ein, drei deutsche Frauen. Sven musste jedem unsere Geschichte vom Bonding erzählen. Mir war das etwas peinlich. Zugleich war die Geschichte ein perfekter Eisbrecher. Es war mein erster richtiger Pilgertag. Laufen in Gesellschaft, eine gemütliche Pilgerherberge, gemeinsames Abendessen und pünktlich um 22 Uhr wurde das Licht im Schlafsaal ausgemacht.
Gruppenschlafsäle waren mir bis dahin immer ein Graus. Doch während wir dalagen, fühlte ich mich geborgen. Renate, eine evangelische Theologin mit tiefer Stimme, sagte auf einmal laut in den Saal hinein: „Jörg, was macht denn jetzt eure Bondage-Gruppe?!“ Die Verwechslung zwischen Bondage und Bonding war gewollt. Alle mussten lachen. Wenige Minuten später ertönten die ersten Schnarchgeräusche.
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