Dilovan war keiner dieser Männer, die wenigstens vorgaben, sich um das zu kümmern, was sie Familie nennen, und die mit ihrem Viertel verbunden sind. Dilovan war ein Geschäftsmann, kein Choleriker, aber auch kein cooler Typ. Viele in seiner Liga koksten zu viel, zogen zu viel Speed, tranken zu viel. Dilovan nahm keine Drogen, er rauchte nicht mal und trank selten ein Glas Bier. Er nahm keine Anabolika, von denen er hätte aggressiv werden können, er war auch nicht aufbrausend, doch wenn es um Gewalt ging, war bei ihm irgendetwas anders als bei den meisten anderen Menschen. Er brach Schädelknochen, wie andere Nackenschellen verteilten.
Warum, hatte ich Lesane gefragt, warum um alles in der Welt geht man zu so jemandem wie Dilovan und fragt nach Gras im Wert von 20.000 Euro auf Kombi?
– Ich habe nicht danach gefragt, hatte er geantwortet, er hat es mir angeboten. Weil er gesehen hat, dass ich ein guter Ticker bin und weil mir sonst keiner eine Chance geben wollte.
– Aber warum gleich so viel? Viel zu großes Risiko. Null Backup, falls es schiefgeht. Das war dumm. Warum?
– Er hat mir diese Chance angeboten. Er hat an mich geglaubt.
– Ihm kann es egal sein, ob du es in den Sand setzt oder nicht.
Er kriegt sein Geld.
– Ich hab’s nicht.
– Ich weiß. Und er weiß es auch, er wird dich für lau arbeiten lassen.
– Dann muss ich für jemand in den Knast. Oder Fuhren aus Holland holen. Oder bei ’nem Raub mitmachen.
– Richtig. Und das willst du nicht, oder? Der glaubt nicht an dich, der glaubt nur ans Geld. Was wolltest du mit so viel Asche? 20.000. Da wären einige Riesen für dich abgefallen, was willst du damit?
– Alles hier ist Para. Hosen kosten Geld, Schuhe kosten Geld, Uhren kosten Geld, Auto kostet Geld. Ich hätte es in drei, vier Tagen vertickt. Es war nicht meine Schuld.
Es war eine unglaubwürdige Geschichte, wie ihm das Gras abhanden gekommen war, und irgendetwas daran schien mir faul, aber ausnahmsweise hatte ich nicht das Gefühl, dass er mich belog. Sie hatten das Gras im Kofferraum von Fayaz’ Auto verstaut, in zwei Sporttaschen, vakuumiert, geruchsfrei. Hatten im Halteverbot geparkt, da, wo sie immer parkten. Wo sie noch nie abgeschleppt worden waren. Sie hatten nur eine Stunde Fußball gespielt an der Wiese am Blumenberg. Als sie wiederkamen, war der Wagen weg, abgeschleppt, wie sie herausfanden. Sie waren nervös, aber sie fuhren ihn abholen, um hinterher festzustellen, dass der Kofferraum leer war. Und da war niemand, den sie nach dem Gras fragen konnten. Lesane hatte sich mit Fayaz den Kopf zugeraucht und war nach Hause gegangen und hatte Sami die Kopfnuss verpasst.
– Erinnerst du dich an Ayleen?, fragte ich Sevgi, als sie sich die Zigarette nach dem Essen anzündete.
– Die, deren Mutter Deutsche ist?
– Genau die.
– Die Mutter taugte nichts. Der Mann hat sie ja dann auch verlassen. Wie hieß der noch?
– Hamdi.
– Genau, der ist ja zwei, drei Jahre nach der Trennung in die Türkei gezogen. Und Ayleen … die war nicht so dumm, wie alle immer geglaubt haben, weil sie diese komische Stimme hatte. Aber die hat ihre Nase immer so hoch getragen, als sei sie irgendetwas Besseres.
Einen Moment lang überlegte ich, ob ich es lassen sollte. Andererseits gab es ohnehin niemanden, über den sie ein gutes Wort verlor. Es zog in meinen Handflächen. Ich war aufgeregt. Schon wieder war ich aufgeregt. Klar konnte man sein Leben so einrichten, dass man seine Ruhe hatte. Nur brach irgendwann einfach alles zusammen. Was hatte ich schon gewollt, außer ein wenig Musikhören, eine kleine Wohnung, ab und an einen Joint und sonst Stille?
– Die hat doch diesen Hilfsarbeiter geheiratet. Wie heißt der noch?
– Sami. Er ist jetzt Paketfahrer.
– Ja, Sami. Nicht der Hellste, aber ein guter Junge. Die haben doch einen Sohn, oder? So ein Nichtsnutz, dem schon vorbestimmt ist, auf den Matratzen von Zellen zu schlafen.
Es war nicht der richtige Moment, aber es würde nie der richtige Moment sein.
– Er ist mein Sohn, sagte ich.
– Bitte?
– Lesane, er ist nicht von Sami. Ich bin sein Vater.
– Geh, sagte sie. Was willst du denn mit dem? Wenn du jemanden adoptieren willst …
– Nicht adoptieren, unterbrach ich sie. Er ist mein Sohn. Mein leiblicher Sohn. Wir haben einen Test machen lassen.
Sie ließ ihre Zigarette sinken und sah mich an.
– Ich bin eine alte Frau, sagte sie, erlaub dir keine Scherze mit mir, mit einem Bein stehe ich …
– Es ist kein Scherz, sagte ich. Er ist mein Sohn.
– Seit wann weißt du das?
– Ein paar Tage, sagte ich, weil ich nicht lügen wollte.
Ich hatte sie oft angelogen, sehr oft, aber ich wusste nicht, wie lange das letzte Mal her war.
– Wer weiß es noch?
– Ayleen und er selber. Sonst niemand.
– Sami?
Ich schüttelte den Kopf.
Sie hatte es auch nicht geahnt und irgendwie beruhigte mich das. Sie griff nach der Packung, obwohl in ihrer Hand noch eine Zigarette brannte. Man sah den Widerstreit in ihr zwischen Freuen und Fluchen.
– Was hat sie sich dabei gedacht, dir das so lange zu verschweigen?
Sie legte die Packung wieder weg, als sie die Zigarette zwischen ihren Fingern bemerkte.
– Ich weiß es nicht.
Sie schüttelte den Kopf.
– Was hat sich diese Schlampe denn gedacht?
Ich hob die Schultern. Sie sah mich an. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, noch einen Moment und sie würden über das Lid fließen. Sie drehte den Kopf weg.
– Wie hieß das Mädchen noch mal?
– Ayleen?
– Nein, diese Deutsche, mit der du weggefahren bist.
– Rahel? Wie kommst du denn jetzt auf Rahel?
Sie sah mich wieder an. Die Tränen waren nicht geflossen und würden nicht fließen.
– Ich bin eine alte Frau, sagte sie. Ich hätte dir ein Kind gewünscht. Was habe ich verbrochen, dass ich nie ein Enkelkind im Arm halten konnte? Was hast du verbrochen, dass sie dir seine Kindheit gestohlen hat? Sie ist eine Diebin. Du wärst ein guter Vater gewesen.
Sie sagte es mit einer solchen Überzeugung, dass es mich traf wie ein Faustschlag. Mir schossen die Tränen in die Augen und ich schaute auf den Tisch.
– Und warum hat sie es dir jetzt gesagt? Welchen Vorteil erhofft sie sich davon?
– Er streitet sich jeden Tag mit Sami. Sie hatte Angst, dass es Gewalt gibt, und wusste sich nicht mehr zu helfen.
– Ja, sagte sie, jeder Fehler, den man zu verstecken versucht, führt am Ende in eine Sackgasse. Vielleicht sieht es eine Zeit lang aus wie das Paradies, aber das Paradies kennt keine Sackgassen. Wenn Gott den Menschen nur etwas mehr Verstand gegeben hätte. Was machst du jetzt? Trefft ihr euch?
– Er wohnt gerade bei mir, rutschte es mir heraus.
– Er …
Mein Magen verkrampfte sich. Ich wollte nicht lügen.
– Er hat Sami eine Kopfnuss gegeben. Ist vielleicht gut, wenn alle ein wenig Abstand haben.
Ich wusste, woran es sie erinnert hätte, wenn ich ihr die ganze Wahrheit erzählt hätte. Ich wollte nicht. Und ich glaube, wenn sie es sich hätte aussuchen können, hätte sie es auch nicht gewollt.
– Ist er ein dummer Junge?, fragte sie.
– Ich fürchte schon.
Sie schüttelte leicht den Kopf und lächelte. Macht nichts, sollte das heißen. Sie lächelte voller Wärme.
– Wir haben schon ganz andere Berge erklommen, sagte sie. Ich schämte mich, dass ich nicht zu so einem Lächeln fähig war.
Später, nachdem ich ihr wieder und wieder versprochen hatte, ihn nächstes Mal mitzubringen, schloss sie die Wohnungstür hinter mir und ich setzte mich im zweiten Stock einfach auf die Stufen.
Ich wollte nicht raus.
1993, The World Is Yours, Scarface
Es fängt mit Unruhe und Aufregung an, er muss kacken und geht ins Gebüsch. Als er wiederkommt, behaupten die anderen, sie spürten nichts. Kamber schlägt vor nachzuwerfen, obwohl nicht viel mehr als eine halbe Stunde vergangen sein kann. Sie haben nicht genug zweite Teile für jeden, also bekommt jeder noch ein halbes. Es sind kleine weiße runde Pillen, auf der einen Seite ist der Diesel-Indianer, auf der anderen eine Bruchrille.
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