Christiane Antons
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Gestaltung Innenteil: César Satz & Grafik GmbH, Köln
Lektorat: Ulrike Rodi
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
eISBN 978-3-89425-680-7
1. Auflage 2020
Christiane Antons, geboren 1979 in Bielefeld, studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Anglistik und Geschichte an der Universität Bielefeld. Sie absolvierte in Herford ein Hörfunkvolontariat beim Lokalradio und arbeitete mehrere Jahre als freie Mitarbeiterin für verschiedene Sender. Seit 2008 ist sie beim Westfälischen Literaturbüro in Unna e. V. tätig. Nach Stationen im Ruhrgebiet und Rheinland lebt sie heute wieder in Ostwestfalen.
www.christianeantons.de
Wer auf den Zehen steht, steht nicht fest.
Wer mit gespreizten Beinen geht,
kommt nicht voran.
Wer selber scheinen will,
wird nicht erleuchtet.
Wer selber etwas sein will,
wird nicht herrlich.
aus: Lăozĭ, Dàodéjīng
Vor einem Jahr war sie vierzig geworden. Und seine Welt war noch in Ordnung gewesen. Er liebte den Blick von hier oben, er liebte die Plattenbauten von Marzahn. Makellose Schönheit hatte ihn schon immer gelangweilt. Anlässlich der internationalen Gartenausstellung hatte er mit seinen Studenten einen Rundgang durch den Bezirk konzipiert, der die Besucher über die Geschichte der einst größten Plattenbausiedlung Europas informierte. Über den ersten Spatenstich unter dem DDR-Regime im Jahr 1977. Über die Gegenwart, die blumiger war, als manche es glauben mochten: Marzahn war eine der grünsten Ecken in der Hauptstadt. Und über die Zukunft, denn es entstanden neue Plattenbauten. Die einhundertfünfundsechzig schicken Wohnungen würden im kommenden Jahr fertiggestellt sein.
Das würde er allerdings nicht mehr erleben. Er schaute kurz in die Tiefe, doch das war keine gute Idee, das ließ den nächsten Schritt nur schwerer erscheinen. Deshalb konzentrierte er sich wieder auf den Horizont.
Die Rede zur Einweihung des neuen Wohnkomplexes, die er bereits als Rohfassung auf seinem Computer abgespeichert hatte, würde nun jemand anderes halten müssen. Das war ein Jammer. Aber spätestens in ein paar Tagen hätte ihn sowieso die Bezirksbürgermeisterin angerufen und ihm mitgeteilt, dass sie sich unter diesen Umständen leider um einen anderen Redner würde bemühen müssen.
So wie ihm auch der Dekan vergangene Woche mitgeteilt hatte, dass er unter diesen Umständen keinesfalls weiter lehren durfte. Ja, er wüsste natürlich um seine Verdienste für die Fakultät. Und ja, er war ebenfalls davon überzeugt, dass die Vorwürfe haltlos seien. Aber sie waren nun mal in der Welt und allein das Gerücht – ein Professor, der des sexuellen Missbrauchs beschuldigt wurde – sei für die Uni untragbar. Zudem stünde die unangenehme Sache mit der Doktorarbeit noch aus. Selbst wenn am Ende alles zu seinen Gunsten ausginge – ein Makel würde bleiben, da dürfte man sich nichts vormachen. Er als Dekan habe ja auch Verantwortung zu tragen. »Versuch es doch positiv zu sehen«, hatte der langjährige Weggefährte ihn aufbauen wollen. »Mein Ratschlag: Du hast das Pensionsalter fast erreicht. Begib dich etwas früher in den Ruhestand und genieße ab jetzt die schönen Dinge des Lebens.«
Doch sein Lebensinhalt war einzig die Lehre und Forschung. Alles, was ihm lieb und teuer gewesen war, lag nun in Schutt und Asche.
Mit einer Ohrfeige am vergangenen Freitag hatte es begonnen. Die Mutter einer Studentin war in seine Sprechstunde gestürzt und hatte ihm eine geknallt. In diesen Zeiten erledigten selbst das die Eltern für ihre erwachsenen Kinder. Er verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln.
Was für eine Bestie er sei, hatte die Mutter ihn angezischt, bevor sie das Büro wieder verlassen hatte. Das war nicht als Frage formuliert, das war eine Feststellung gewesen. Die Fotos, die von ihm im Internet veröffentlicht worden waren, ließen ihn in der Tat als Bestie dastehen. Allein: Sie waren allesamt gefälscht – verdammt gut gefälscht – und der Höhepunkt einer Reihe von Anschuldigungen, die ihn, sein Leben und seine bisherige Arbeit in Misskredit gebracht hatten.
Er schaute auf den Plattenbau direkt gegenüber. Im Erdgeschoss befand sich seine Wohnung. Aus purer Gewohnheit hatte er auch dieses Mal das Licht in der Küche brennen lassen, bevor er sie verlassen hatte. Der gesamte Komplex gehörte zur Wohnungsbauserie WBS 70, das meistverbreitete Plattenbausystem der DDR ab 1970, und bestand aus elf Stockwerken. Die Höhe war mehr als ausreichend.
Als er des Plagiats beschuldigt worden war, war er zunächst gelassen geblieben. Das war schon ganz anderen auf weitaus wichtigeren Posten passiert. Er war sich sicher gewesen, dass ihn die Überprüfung seiner Doktorarbeit entlasten würde. Doch dann hatte er irgendwann begonnen, an sich selbst zu zweifeln. Hatte er damals vielleicht doch vergessen, Quellen zu nennen? Hatte er in der Endphase, als das Geld knapp war und die Arbeit fertig werden musste, vielleicht doch hier und da Fünfe gerade sein lassen? Gott, es war schon so lange her, er war noch so jung gewesen. Seine Gedanken verfingen sich in der Vergangenheit. Es hatte ihn schon so viele schlaflose Nächte gekostet. Zu viele. Er hatte aufgehört, sich selbst zu trauen.
Doch die Sache mit dem sexuellen Missbrauch würde sich bestimmt aufklären. Allein, der Dekan hatte recht: Ein Makel würde bleiben. Sein Ruf war ruiniert, er würde nicht mehr lehren können. Und selbst wenn er in einer anderen Stadt an einer anderen Uni noch einmal Fuß fassen könnte, würde ihm das Gerücht stets hinterhereilen. Wie gut, dass seine Eltern dies nicht mehr erleben mussten.
Auf eine eigene Familie hatte er zugunsten der Wissenschaft verzichtet. Und seine letzte kurze Liebe – ja jung, aber bei Weitem nicht verboten jung – war eine große Enttäuschung gewesen. Zunächst hatte er sich gegen ihre Avancen gewehrt, doch sie war beharrlich und geschickt gewesen und hatte ihm versichert, dass sie mit Gleichaltrigen noch nie etwas habe anfangen können. Schließlich hatte er es geschehen lassen, hatte ihren Anblick, ihr offenes Lachen und ihre anregenden Gespräche genossen. »Intelligenz ist das neue Sexy«, hatte sie ihm ins Ohr geraunt.
Vor einigen Monaten hatte sie dann nicht nur sein Herz herausgerissen, sondern auch sein Konto leer geräumt. Wie naiv er gewesen war!
Ihn würden nicht viele Menschen vermissen. Niemand, wenn er ehrlich war. Einer Handvoll Studenten würde es höchstens lästig sein, einen neuen Doktorvater zu suchen.
Sein Vermächtnis war seine Arbeit. Irgendwann, wenn alles aufgeklärt war, würden sie diese in Ehre halten und darauf aufbauen. Zumindest wollte er das glauben. Einmal am Ende noch an etwas glauben.
Er ließ seinen Blick stur am Horizont und ging nach vorn. Beim dritten Schritt trat er ins Leere.
»Wasch ihn ab!«
»Er ist doch nur auf den Teppich gefallen und der ist ganz sauber. Schau, nicht eine Fluse!« Nina Gruber hielt den Schnuller der kleinen Ela in der Hand und sah ihre Freundin prüfend an. »Entspann dich doch mal ein bisschen.«
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