Sehr wahrscheinlich ist es, dass Fräulein Sally noch in ihrem Zimmer geweint hat, denn sie war am folgenden Morgen nicht imstande auszugehen. Sie saß hinter geschlossenen Vorhängen und zankte mit dem kleinen Dienstmädchen, weil es die armen Nerven seiner Herrin mit seinem lauten Wesen auf die Folter spannte.
Zu Mittag erschien Fräulein Sally im blauen Kamisol und mit Haarknollen, und auf Ambrosius’ liebenswürdige Frage, was ihr fehle, erwiderte sie ein »Nichts«, das ebensogut bedeuten konnte: Ich habe die Pest.
Sofort nach dem Mittagessen eilte Fräulein Sally, den Zahnstocher noch zwischen den Lippen, in das Wohnzimmer, zog die Vorhänge zurecht, vergrößerte das gestern gemachte Loch, rückte zwei Sessel heran und wartete. An die Fensterbank gelehnt, biss sie an ihrem Zahnstocher herum, schüttelte die Haarknollen und schaute vor sich nieder. Die Aufregung, die sie bisher beseelt hatte, schwand in der heißen Stille dieses Gemaches. Die ehrwürdig solide Welt der Firma Lanin, über der jetzt eine Wolke von Sonnenstäubchen und der Duft der Mittagssuppe lag, machte Fräulein Sally traurig. An die Stelle der Verachtung für die freche Person, die sich am Trödlerhause von Ambrosius küssen ließ, trat der Neid. Gern hätte Fräulein Sally auch eine heimliche Liebe gehabt, um sie in einem sonnigen Winkel zu verbergen. Ihr Herz ward sehr schwer bei dem Gedanken an die belauschte Liebesszene. Es musste guttun, wenn er einen so umfasste, wenn er…
»Geht es schon an?« fragte Frau Lanin und schurrte herbei.
»Nein«, erwiderte Fräulein Sally kurz und wandte sich ab, denn sie fühlte, dass ihre Augen voller Tränen standen.
»So!« meinte Frau Lanin und gähnte.
Dieses Gähnen empörte Fräulein Sally; sie bezwang sich jedoch und sagte nur bitter: »Ja – so –«
Mutter und Tochter saßen nun einander gegenüber und schauten die Arabesken des Vorhanges an. Zuweilen erhob sich Fräulein Sally, spähte durch das Guckloch auf die Straße hinaus und meldete: »Nichts.«
»Wo bleiben sie nur?« seufzte Frau Lanin schläfrig.
Endlich, als Fräulein Sally wieder ihr Auge an das Löchlein brachte, blieb sie daran kleben.
»Was gibt es?« forschte Frau Lanin. Ihre Tochter schwieg. »Siehst du etwas?« Fräulein Sally antwortete nicht. »Geh, sag, sind sie da?« rief Frau Lanin und erhob sich. Sie preßte ihre schlaffe, weiche Wange an die heiße Wange ihrer Tochter, um zu dem Guckloch zu gelangen; die heiße Wange hielt jedoch stand, und die beiden fest aneinandergedrückten Gesichter verzogen sich seltsam, ein jedes aus Ärger über das andere. »Sag, sind sie da oder nicht?« befahl Frau Lanin jetzt streng.
»Ja doch!« erwiderte Fräulein Sally ungeduldig.
»So lass es mich sehen!«
»Warte.«
»Du hast lange genug hinausgeschaut.«
Vergebens! Unentschlossen und unglücklich blickte Frau Lanin um sich. Was sollte sie tun? Wie sollte sie den Starrsinn ihrer Tochter brechen? Die Zeit verstrich, während sich draußen die interessantesten Dinge abspielten. »Sallychen«, begann sie wieder – im ernsten Ton der Ermahnung, »verlass das Fenster, ich wünsche es. Du siehst Dinge mit an, die sich für ein junges Mädchen nicht schicken. Bisher habe ich dich sorgsam behütet, habe alles Böse von dir ferne gehalten. Ich habe es sogar verboten, dass du dich mit Hühnerzucht abgibst, du weißt, der Papa war auch dagegen. Und nun so was! Sally – Kind – höre.« Das Kind rührte sich nicht. »Sally«, fuhr Frau Lanin in inbrünstigem Gebetston fort, »gehorche deiner Mutter. Ich muss für deine Seele dort oben verantworten. Sally! Bedenke, dass ein höherer Richter auf dich herabsieht. Denke daran, was Raser vorigen Sonntag in der Kirche sagte.«
Fräulein Sally wurde unruhig und drückte ihren Kopf fester gegen den Vorhang.
»So sage wenigstens, was du siehst«, flüsterte Frau Lanin weinerlich.
»Still! Sie küssen sich«, berichtete Sally.
»Wo?«
»Er nimmt ihre Hand.«
»Was noch?«
»Vorläufig nur die Hand.«
»So geht es nicht«, murmelte Frau Lanin, trat einige Schritte zurück und rannte mit der ganzen Wucht ihres Körpers gegen ihre Tochter an. Diese fiel auf einen Sessel. »Es ist empörend«, rief sie mit bleichen Lippen und fügte höhnisch hinzu, das sehe der höhere Richter auch. Frau Lanin legte ihr Gesicht in viele dicke Falten, schaute auf die Straße hinaus und hörte nicht auf ihr zorniges Töchterchen. Plötzlich legte sich eine schwere Hand auf Frau Lanins Rücken, eine zweite schob sie sachte beiseite, und eine würdige leise Stimme fragte: »Was gibt es?« Herr Lanin war auf weichen Hausschuhen herangeschlichen und nahm ruhig von dem Guckloch Besitz. Er ließ ein knurrendes »Oh!« hören, dann schwieg er, stand mit gekrümmtem Rücken da, die Hände auf die Fensterbank gestützt, und spähte hinaus. Mit Antipathie schauten Mutter und Tochter auf den breiten Rücken des Hausherrn. »Der geht gewiss nicht fort!« meinte Frau Lanin.
»Es ist deine Schuld, du warst zu laut«, erwiderte Fräulein Sally kühl und lachte bitter, doch, schnell gefasst, beschloss sie, im anderen Vorhang ein Loch für sich – für sich ganz allein zu machen.
»Das kann ich auch tun«, sagte Frau Lanin, und beide eilten an das andere Fenster.
Ein jeder hatte jetzt sein Guckloch, und es herrschte Frieden in der Familie Lanin. Regungslos klebten die drei Profile an den Vorhängen, und ein jedes hatte ein fest zugedrücktes Auge und einen schief verzogenen Mund.
»Das ist zu stark!« stöhnte Fräulein Sally plötzlich auf und eilte zur Türe. Vater und Mutter blickten verwundert auf.
»Was will sie? Sie ist toll«, meinte Herr Lanin.
Aber Fräulein Sally wusste wohl, was sie wollte. Sie riss die Haustüre auf, steckte ihren Kopf hinaus, sandte ein schrilles, hohes Lachen auf die Straße hinab und verschwand wieder. Das erleichterte ein wenig ihr bedrücktes Jungfrauenherz.
Fräulein Sallys Gelächter schreckte die Liebenden aus einer engen Umarmung auf. »War das nicht Sally?« fragte Rosa. »Jawohl, sie war es«, bestätigte Ambrosius. Sie schauten sich an und begannen zu lachen: »Sally! Mein Gott! Sally!« Das Lachen wollte kein Ende nehmen. Rosa musste sich an Ambrosius lehnen, weil das unbändige Gelächter sie aller Kraft beraubte. »Dort hinter dem Vorhang hat sie gesessen. Gott, wie mag sie geschielt haben.« Endlich drängte sich jedoch die Frage auf, was sollte geschehen? Rosa ward besorgt; Ambrosius aber machte sich aus alledem nichts. »Wir gehen ins Haus. Die tolle Sally soll uns nicht stören; die gewiss nicht!« Er war entschlossen, sich diese Liebesstunde nicht nehmen zu lassen, das wusste er!
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