Herr Herz kam: »Wie geht es, mein Kind? Die Agnes meint, du seist krank.«
»Es ist vorüber«, erwiderte Rosa. »Es war nur von gestern. Du weißt?«
»Ja, wir haben brav getanzt. Ein wenig gerader hättest du dich halten können; sonst war es gut. Du warst die Beste.« Herr Herz, frisch und rosig, mit klaren Augen und sehr weißer Wäsche, hatte schon viel erlebt. »Lanin«, erzählte er, »ist heute nicht im Magistrat gewesen. Der Doktor ging zur Frau Palton, die soll krank sein. Auch den jungen Tellerat habe ich gesehn; er stand dort beim Trödler Wulf und handelte um einen Pfeifenkopf. Der Kopf war nicht schlecht, aber der Wulf, der Schelm, betrügt all die jungen Leute.« Herr Herz wollte sich entfernen, öffnete aber noch einmal die Türe und rief: »Ich vergaß, dir zu erzählen, dass ich auch Klappekahl getroffen habe. Er klagt über Kopfweh – du verstehst, die gestrige Bowle.«
Auch das Mittagsmahl war sehr heiter. Rosa aß und sprach zwar wenig, dafür war sie aber stets zu einem lauten, herzlichen Lachen bereit, das ihren Vater glücklich machte. Um dieses ausgelassene Mädchenlachen zu erregen, wagte er alles, er hatte sogar einen Witz über seine selige Schwester Ina gemacht. Heute kritisierte er die gestrige Gesellschaft. Zuweilen steckte er seine Serviette fester hinter den Kragen, erhob sich und ahmte das Tanzen dieser oder jener Person nach. »Gott, die arme Ernestine Klappekahl; sie hat das Tanzen nie erlernt. Hast du sie beobachtet? Mit deiner lieben Mutter musste ich vor vielen Jahren in einem Ballett einen Zikadenreigen tanzen. Wir hatten grüne Röcke an, lange, spitze, eckige Beine und hüpften umher. Grad so hat es gestern Ernestine Klappekahl gemacht. Ich musste an den Zikadenreigen denken.« Und als Rosa lachte, wischte sich Herr Herz zufrieden die Lippen und meinte: »Ja – Kind, früher war ich ein arger Witzbold. Oh, sehr sarkastisch konnte ich sein. Das vergeht mit den Jahren. Aber ich hatte eine sehr scharfe Zunge.«
Am Nachmittag jedoch litt es Rosa nicht länger daheim. Eine innere Ungeduld trieb sie hinaus. Erst auf der Straße besann sie sich. Wohin eilte sie denn? Wo harrte – es – ihrer? Wo konnte sie es finden? – Zum Trödler Wulf wollte sie hinab.
Gerade dem Laninschen Laden gegenüber besaß der Trödler Wulf eine kleine Holzhütte. Sie lehnte sich an ein größeres Gebäude und sah mit ihren morschen Bretterwänden, ihrem Dach aus gesprungenen, ungeordnet übereinandergeschobenen Dachpfannen wie eine alte Schaubude aus, die man vergessen hatte abzureißen. Die Türe, in den engen Laden führend, stand immer offen. An den Türpfosten hingen alte Kleider, welke Hosen, die noch treu irgendeine wunderliche Krümmung, irgendeine Stellung ihres früheren Besitzers festhielten. Abgetragene Röcke spannten dort ihre Arme aus und sonnten ihre Fettflecken und Risse. Drinnen, im Laden, lag allerhand Gerät aufgehäuft. Die Ecken standen voll rostiger Eisensachen, an den Wänden hingen alte Tapisseriearbeiten, auf denen die Motten den gestickten Damen die blauseidenen Augen aus dem Kopf und die Rosen aus der Hand gefressen hatten. Stöße verbrauchter Schulbücher türmten sich bis zur Decke auf, trübe, zerknitterte Gesellen mit staubfarbigen Umschlägen und großen Rissen. Auf dem Ladentisch standen Glaskasten voll unechten Schmuckes, daneben Seifen, bunte Taschentücher, Messer, Kämme, Pfeifenköpfe, alles warm beschienen, dicht mit unsteten Lichtflocken übersät. Hinter dem Ladentisch saß der Trödler selbst, ganz in sich zusammengesunken, und schlief. Ein hageres gelbes Gesicht; aller Art Vertiefungen, Schrammen, wie das verbrauchte Gerät ringsum – braune Flecken, wie Rost. Ein dünner, abgeblichener Bart fiel ihm auf die Brust herab, und zwei fest zusammengerollte Löckchen hingen zu beiden Seiten des nackten Schädels. So schlief der Trödler Wulf inmitten seiner modernden Ware – in der schweren Luft voll Staub, Fliegengesumme und dem Geruch von Kräuterseife und alten Hosen. Draußen an der Türe lehnte Ida, seine Tochter, und unterhielt sich damit, Kieselsteine mit dem Fuße über die Straße zu schnellen. Ernst und sorgenvoll folgten ihre schwarzen Augen jedem dahinfliegenden Stein. Rosa blieb vor dem Judenmädchen stehen. »Warum tust du das, Ida?« fragte sie.
»Ich übe mich«, erwiderte Ida, ohne aufzublicken. »Wenn der Peter kommt, spielen wir das um Geld. Sie verstehen, Fräulein Rosa: Wenn ich’s gut kann, dann gewinne ich dem Peter das Geld ab. Dort den Laternenpfahl gilt es zu treffen. So! – Sehen Sie, Fräulein Rosa –«, sie preßte die Lippen zusammen, zielte und schnellte den Stein gegen den benachbarten Laternenpfahl. »So hätte ich gewonnen.« Sie kreuzte die Arme über der Brust und blickte Rosa scharf ins Gesicht: »Gestern waren Sie schön, Fräulein Rosa. Durchs Fenster hab ich Sie gesehen.«
Rosa lachte. »Du hättest wohl gern mitgetanzt.«
»Hätte ich schöne Kleider, dann ja«, meinte Ida; »aber er war auch schön!«
»Wer?« Rosa errötete.
»Der junge Herr dort von Lanins. Mit dem hätte ich gern getanzt. Er war der Allerschönste. Nicht?«
»Was verstehst du davon?« versetzte Rosa unsicher.
»Schon recht«, erwiderte Ida ruhig; »wenn ich auch nichts davon verstehe, so weiß ich doch, dass er schön ist. Wenn er mit Ihnen tanzte, Fräulein Rosa, dann machte er ganz große Augen, das habe ich auch gesehen. Soll ich ihn rufen?«
»Ihn rufen? Warum?«
»Von drüben kann er ja leicht herüberkommen. Ich meinte, Sie wollen ihn sehen.«
»Oh, ich nicht!« rief Rosa und blickte zerstreut zu den Dächern auf. »Tu, was du willst.«
»Wollen Sie hier warten, Fräulein Rosa?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht ruhe ich mich hier noch aus. Aber – du weißt, Ida – mir ist es gleichgültig, ob jemand kommt oder nicht. Ich wollte nur mit dir sprechen.«
»Schon recht«, bemerkte Ida und schurrte mit ihren abgetragenen Schuhen über die Straße, die Laninsche Treppe hinan. Rosa trippelte unschlüssig hin und her. Sollte sie weitergehen? Sollte sie bleiben? Sie lehnte sich an die Türe des Trödlerladens und schaute den Schwalben nach – mit einem hübschen Gesicht, das an nichts Besonderes zu denken schien. Endlich kam Ida wieder – langsam und gähnend herangeschlichen. »Er wird gleich kommen«, berichtete sie und setzte sich auf die Türschwelle.
»Ida – du hast doch nicht…?« rief Rosa. »Nun, mir gilt es gleich, ob jemand kommt oder nicht. Ich habe niemanden rufen lassen. Ich nicht.«
»Gut! So kommt er zu mir.« Dabei zuckte Ida die Achseln, schloss halb die Augen und saß schläfrig und ruhig da, wie ein altes, bleiches Weib, das all die Jugendtorheiten kennt und verachtet. Die Glocke an Lanins Ladentür erklang, und Ambrosius eilte auf die Straße hinab, ohne Hut, buntgestickte Pantoffeln an den Füßen und ein stolzes Lächeln auf den Lippen.
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