Er verschwand.
Freundlich, mild und gutgelaunt blickte Lurch auf das daliegende Mädchen; wunderlich aber war es, wie diese Freundlichkeit, diese Milde und gute Laune ihm übel standen und sein Gesicht verzerrten. Mit krummen Knien und auf den Fußspitzen näherte er sich der Kiste und drückte behutsam sein Taschentuch gegen Rosas Gesicht; dabei stieß er zuweilen einen klagenden Laut aus oder sprach leise vor sich hin in der weichen, lallenden Weise, in der Ammen ihre Säuglinge anzureden pflegen. »So – so – es wird besser. Legen wir das auf die kleine Stirn – die kleine, kleine Stirn –; ist’s so gut, was?« Rosa bewegte sich. »Oh«, meinte Lurch ernst, hielt in seiner Beschäftigung inne, lauschte einen Augenblick und drückte dann seinen gelben Mittelfinger fest an Rosas Schulter.
Rosa seufzte, richtete sich halb auf und schaute verwundert um sich; sie verstand ihre Lebenslage nicht. Vor ihr stand Lurch, krumm vor Rührung und Verlegenheit.
»Ja, Fräulein Rosa, ich bin’s, nur ich – Conrad Lurch – fürchten Sie sich nicht. Ihnen war nicht ganz wohl; der Spiritus hat Ihnen gutgetan. Sie wollen Ihr Füßchen von der Kiste herabziehen? Es könnte Sie ermüden, ich will Ihnen helfen – ah, es ist schon geschehen. Jetzt ist Ihnen besser, Fräulein Rosa, nicht?«
Rosa dachte nach – ließ die Arme schlaff niederhängen und streckte die Füße von sich. Das zerknitterte Kleid war tief von den Schultern herabgeglitten – wirr hingen ihr die Locken ins Gesicht –, und das ärmliche Mondlicht ließ die ganze Gestalt seltsam weiß und bleich erscheinen.
»Warum bin ich hier – im Laden? Und warum sind Sie hier?« fragte sie langsam.
»Das kommt daher –«, erklärte Lurch. »Doch, Sie werden sich dessen schon entsinnen. Ich habe einiges gesehen, ich will nicht davon sprechen, es könnte Sie beleidigen. Herr von Tellerat ging in den Saal zurück.«
»Ah –«, jetzt wusste es Rosa, und ihr ward bange. »Fort will ich«, sagte sie rau.
»Gewiss, Fräulein Rosa; erlauben Sie nur«, und behutsam fasste Lurch den Rand von Rosas Kleid. »Das ist nicht für alle Welt.«
Die kalten Finger, die sie berührten, ließen Rosa vor Widerwillen schaudern, und sie begann zu weinen.
»Hab ich Ihnen wehgetan?« klagte Lurch, und in seinen trüben Augen standen auch Tränen.
»Ich kann die Türe nicht finden«, schluchzte Rosa.
»Weinen Sie darüber, Fräulein Rosa? Die Türe kann ich Ihnen zeigen; hier ist sie.«
Rosa lief hinaus, eilig, als würde sie gejagt. Der dunkle Raum, den sie verließ, erregte in ihr jenes peinvolle Gefühl, das Kinder erfasst, wenn sie an finsteren Ecken vorüber müssen.
Der Saal war fast leer, nur in einer Ecke saß Frau Lanin und schlief, in der entgegengesetzten Ecke saß Herr Herz und schlief ebenfalls, und die beiden Schlummernden sandten sich abgerissene, schnurrende Kehllaute zu, dass es wie eine Unterhaltung in einer barbarischen Sprache klang. Auf einem Sessel kauerte etwas Weißes – Marianne Schulz. Sie schluchzte dort leise, denn seit dem Souper hatte keiner mit ihr getanzt. Sie konnte sich nicht entschließen, den Saal zu verlassen und das festliche Musselinkleid abzulegen.
Rosa ging zu ihrem Vater hinüber, legte ihre Arme um seinen Hals und weckte ihn mit einem Kuss.
»Komm –«, sagte sie.
»Gewiss, mein Kind; es ist schon spät, nicht?«
»Leiser, Papa, dass niemand uns hört.«
»Haha, wieder ein Spaß.«
Arm in Arm gingen sie hinaus. Eine Wolke zog über den Mond, und ein sanftes Dämmerlicht lag über der schlummernden Stadt, den stillen weißen Häusern, den leeren feuchten Straßen, wie das graue Zwielicht einer Krankenstube.
Am folgenden Tage war Rosa krank. Ja, sie fühlte sich sehr krank. Abgehetzt und atemlos fuhr sie aus dem Schlaf auf. Wirre Träume, auf die sie sich nicht mehr besinnen konnte, hatten sie gejagt und verfolgt. In Fiebernächten wird das aufgeregte Blut eine Peitsche, die uns nimmer Ruhe gönnt; jede neue Welle ein neuer Schlag, der uns aus einem wüsten Traumort in den andern treibt, bis wir, zu Tode ermattet, erwachen. Die wilden Träume hatten Rosa so weit von ihrem friedlichen Zimmer fortgetragen, dass sie sich jetzt verwundert umschaute. Sonnenstrahlen stahlen sich lustig gelb durch die Spalten der Vorhänge und zitterten als mattblonde Flocken auf der Wand. Eine Fliege schwirrte, leise summend, den Lichtweg vom Vorhang zur Wand auf und ab. In der Türe stand Agnes Stockmaier und schaute Rosa mit ihren ruhigen, matten Augen an, und diese Augen taten Rosa wohl – übergossen sie mit warmem Behagen, sicherer Gemütlichkeit. Rosa lehnte sich in ihre Kissen zurück und ließ sich anschauen.
»Was gibt’s, Kind?« begann Agnes, und die sanfte, altgewohnte Stimme schien die Stille des Gemaches kaum zu unterbrechen. »Dir ist nicht gut? Im Schlaf hast du dich hin- und hergeworfen und hast gestöhnt. Was gibt’s?«
»Nein, Agnes, mir ist nicht gut!« erwiderte Rosa. »Ich bin so müde.«
»So schlaf, Kind.«
»Das mag ich nicht.«
»Gut! Bleib wenigstens liegen. Aus der Schule wird heute ohnehin nichts.« Agnes rückte Rosa die Kissen zurecht und strich die Bettdecke glatt. »Ich bringe das Frühstück. Das kommt vom Tanzen.«
»Ach ja!«
Agnes ging, und Rosa lag wieder ruhig da, die Hände über der Bettdecke gefaltet. Sie wollte sich selbst die Überzeugung aufdrängen, sie sei krank und durchaus nicht imstande, Geschehenes klar zu überdenken, einen Entschluss zu fassen, eine Verantwortung zu übernehmen.
Agnes brachte das Frühstück, richtete Rosa auf, strich ihr das Haar aus der Stirne, hielt ihr die Schale mit Milch; unwillkürlich geriet sie wieder in das Geschäft des Wartens hinein, das sie so lange an der kleinen Rosa geübt hatte; und Rosa fand sich auch schnell wieder in die Rolle, Agnes’ Schützling zu sein, der noch nichts von der bösen Welt der Tellerats und der Lurchs weiß.
»Du bleibst liegen, bis der Papa kommt«, beschloss Agnes. »Liege nur still. Zu Mittag stehen wir auf.« Sie schob die Vorhänge zurück, öffnete das Fenster, warf einen prüfenden Blick auf das Gemach, wie sie es früher so oft getan, wenn sie das Kind allein ließ und sich vorher davon überzeugte, ob nichts im Gemach dem Kinde schaden könnte; dann ging sie mit dem gewohnten »Hübsch still! Ich bin gleich wieder da« hinaus.
Das Sonnenlicht drang jetzt voll in das Zimmer und beschien grell all die alten Sachen, die abgeblichenen Vorhänge, den struppigen Teppich – Rosas dunkles Werktagskleid. Durch das Fenster klang das eintönige Surren der heißen Mittagsstunde herein, und allerhand klingendes Sommergesindel mit flimmernden Flügeln verirrte sich in das Gemach. Rosas Gedanken gingen weit in frühe Kindertage zurück; immer wieder wollte sie den ereignislosen Frieden jener Zeit denken, es kostete sie jedoch Anstrengung, denn zuweilen entwichen die Gedanken zu einem Gegenstande, den Rosa vermeiden wollte. Nein, in jene Zeit wollte sie sich zurückversetzen, da sie auf dem Estrich der Küche saß und spielte, während Agnes die Suppe kochte und Blätterschatten über den weißen Küchentisch strichen, immer hin und her… doch ehe sie sich dessen versah, stand ein blasses, aufgeregtes Gesicht vor ihr – heiße Hände drückten ihren Arm – – –, gewaltsam musste sie die Gedanken auf die frühere Bahn zurückdrängen; es gehörte jedoch eine Kraft des Willens dazu, die sie ermüdete, und sie ließ endlich von diesem unerquicklichen Ringen mit ihrer Phantasie ab. Gut, sie wollte an den gestrigen Abend denken, wenn es denn sein musste! Nun, und als sie an ihn dachte, als sie sich jeden Augenblick, jedes Gefühl wieder in das Gedächtnis zurückrief – da war es so schlimm nicht. Über Lurch konnte sie lachen, und Ambrosius – – – der Gedanke an ihn machte sie unruhig, verleidete ihr die Stille des sonnigen Gemaches. Alle Mattigkeit war fort, neue Lebensungeduld ergriff sie.
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