Sie gingen durch den Hof in die Trödlerwohnung hinein, Ida saß auf der Fensterbank und sah die Eintretenden so ruhig an, als hätte sie sie erwartet. »Ida, wir kommen dich besuchen«, rief Ambrosius gutgelaunt.
»Müssen die Vorhänge vorgezogen werden?« fragte Ida in gleichgültigem Geschäftston.
»Gewiss«, erwiderte Ambrosius. »Es ist Gefahr im Anzuge.«
Das Zimmer war äußerst klein und finster. In einer Ecke stand ein geräumiges Bett, halb von einer gelben Gardine verhüllt; daneben ein Kasten, an dessen Ecken welke Unterröcke hingen. Auf einem dünnbeinigen Tischchen am Fenster war allerhand Gerät zur Schau gestellt, silberne Kannen, zerbrochene Teller, golddurchwirkte Fetzen. Davor auf einem abgeriebenen roten Samtsessel saß die alte Jüdin und schlummerte – eine große, farblose Masse. Wo die schmutzigen Fetzen ihrer Kleidung aufhörten und wo der Körper begann, war nicht zu unterscheiden; alles schien gleich schlaff und von gleich gelbgrauer Farbe. Nur zuweilen blitzten unter dem Tuch düstere Funken auf – das waren dann die Augen. Frau Wulf nahm von ihren Gästen keine Notiz, sondern schlummerte weiter. Ida stäubte mit ihrem Kleide zwei Stühle ab, stellte sie mürrisch vor Ambrosius hin, zog die Vorhänge vor das Fenster und setzte sich schweigend auf das Bett.
»Hm – sehr romantisch«, sagte Ambrosius. Dennoch saßen sie ein wenig befangen mitten im Zimmer. Die fröhliche Laune war fort, und in beiden regte sich die Sorge. »Ich sollte vielleicht heimgehen«, bemerkte Rosa kleinlaut.
»Heimgehen? Jetzt?« rief Ambrosius entrüstet aus. Rosas niedergeschlagener Ton, ihr melancholisch mutloses Gesicht verdarben vollends seine Laune, und nichts verzieh er schwerer, als wenn man ihn verstimmte und in seinem Herzen den Weltschmerz weckte, das heißt den Gedanken an gewöhnliche Werktage, an seinen Onkel, an seine Pflicht im Geschäft. Gut! Rosa sollte gehen; die Überzeugung aber konnte sie mitnehmen, dass sie seinen Plänen und Anschauungen nicht gewachsen war. Hätte er gewusst, dass Rosa sich von einer so albernen Person wie Sally einschüchtern ließ, er wäre ihr aus dem Wege gegangen. – Er erhob sich, machte mit den Armen weite Bewegungen; seine Stimme nahm einen angenehmen Baritonklang an, und seine Ausdrücke waren gewählt und volltönend. Er wollte sich über seine Missstimmung hinwegreden.
»Nein! Ich hätte dein ruhiges – ich möchte sagen – friedlich-unschuldiges Leben nicht gestört, hätte ich gewusst, du seist nicht besser als die anderen. Ich kenne meinen unglücklichen Charakter. Ich weiß, auf der großen Heerstraße vermag ich nicht einherzugehen. Ich kann das eben nicht. Es liegt nicht in meinem Naturell! Ganz glücklich werde ich nie sein; und die – die ich liebe – wird es auch nicht sein. Das ist, möchte ich sagen, der Fluch, der auf uns, quasi abnormen Geistern, ruht, dass wir jedem, den wir lieben, unser Verhängnis mitteilen.« – Das Bewusstsein, ein abnormer Geist zu sein, ein Verhängnis und einen Fluch zu haben, gab Ambrosius wieder seine gute Laune zurück. Er war stets der erste, den seine Reden überzeugten. Während des Sprechens wandte er sich öfters an Ida, und als er die Hand auf das Herz legte, blickte er die alte schlummernde Jüdin an. »Darum eben suche ich ein tapferes Herz, das willig meinen – hm – Fluch teilt. Bist du dieses Herz? Sage! Bist du es?«
Rosa neigte den Kopf. Was sie hörte, gefiel ihr sehr gut, aber antworten! Ähnliches hatte sie schon in Romanen gelesen, es war ihr jedoch nie eingefallen, dass man auf so etwas eine Antwort geben konnte. Da jedoch Ambrosius schwieg, sagte sie leise: »O ja!« mit dem deutlichen Bewusstsein, dass ein nacktes »O ja« auf eine so hübsche Frage eine lächerliche Antwort sei. Ambrosius genügte es. Gut, war Rosa dieses Herz, dann durfte sie sich nicht vor Sally oder sonst jemandem in diesem dummen Neste fürchten.
Der Nachmittag war weit vorgerückt. Über die Wände zogen blassrote Lichter, und draußen auf dem Pflaster klapperten die Schritte der Abendspaziergänger.
Ambrosius seufzte und ergriff Rosas Hand. »Nein, das darfst du nicht, mich verlassen darfst du nicht.«
Rosa drängte sich an ihn heran. Sie fürchtete sich vor der Welt, die draußen zu lärmen begann und den Ton bekannter Stimmen, eiliger Schritte hereinsandte. Es tat wohl, traulich beieinander zu sitzen und sich langsam von der Dämmerung überdecken zu lassen.
Ambrosius sprach jetzt mit gedämpfter Stimme, dicht auf die wirren blonden Haare des Mädchens niedergebeugt. Er wollte sie schützen. Er liebte sie nur zu sehr. Fort, in eine große Stadt wollten sie flüchten. Dort, im Gedränge und Lärm, würde sich das Band zwischen ihnen enger noch und fester knüpfen. Journalist, Schriftsteller wollte er werden, das war, er fühlte es wohl, sein Beruf.
So ging es mit halblauter Leidenschaft fort. Rosa hielt die Augen geschlossen, und jedes Wort, das sie hörte, nahm die Anschaulichkeit eines Traumes an – endlose Straßen voller Sonnenschein, Paläste, Menschengetümmel – und überall ein gefeiertes, geliebtes blondes Mädchen. Als es ganz dunkel war, schwieg Ambrosius; nur noch das Schnarchen der Jüdin war im Gemache vernehmbar.
Plötzlich verlautete eine schläfrige Stimme: »Ida, bring die Lampe.«
Rosa fuhr auf. Ja, sie war noch immer im Hinterstübchen des Trödlers. »Es muss spät sein«, sagte sie beklommen. Eine große Angst bemächtigte sich ihrer. Sie musste fort – und draußen harrte etwas Böses, Feindliches ihrer.
Ida brachte die Lampe, und das harte gelbe Licht verbreitete furchtbare Traurigkeit um sich. Idas forschende Augen, das verschlafene Gesicht der alten Jüdin, das Zimmer mit seinen schäbigen Sachen – alles war niederdrückend, und doch hätte das bange Mädchen viel darum gegeben, nicht aus dieser garstigen Stube hinaus zu müssen. Aber es musste ja doch sein. »Ich gehe«, sagte sie hastig und bot ihre sorgenvolle Stirn Ambrosius zum Kusse dar, dann war sie fort.
Ambrosius saß noch da. Ihm war unbehaglich genug ums Herz; hielte ihn nicht die Scham ab, er hätte, wie ein Kind, aus übler Laune geweint. Hinaus sollte er? Lanins entgegentreten? Das war zu fatal. Er ging nicht, er blieb sitzen.
Herrn Klappekahls Apotheke war ein äußerst freundlicher Aufenthalt. Geräumig, weiße Spitzenvorhänge an den Fenstern, ein Mosaikfußboden, der auf blaugrauem Grunde weiße Sterne zeigte, allenthalben eine Verschwendung an Mahagoni, die Türe, die Schränke, die Fensterbänke, die Stühle – alles von Mahagoni und spiegelblank. Auf der grauen Marmorplatte des Ladentisches standen in musterhafter Ordnung Waagen, Mörser, Gewichte von jeder Größe. Die Schränke waren voll schneeweißer Büchsen und klarer Flaschen, und alles das von goldenem Morgensonnenschein überflutet, von einem scharfen Geruch von Medikamenten umweht, zu dem ein Rosenstrauß auf dem Fensterbrett seinen zarten Duft gesellte. Vor diesem Rosenstrauß stand Herr Klappekahl, frisch gekämmt, rosig, in seinem leinenen Sommeranzug, so rein und blank wie seine Büchsen oben in den Fächern. Er suchte sich gerade eine Rose aus, um sie in sein Knopfloch zu stecken. In dem Blick, den er auf den kleinen Platz vor dem Hause warf, lag eine Welt von Güte und Frieden. Jetzt war der Entschluss gefasst, jetzt wusste er es, jetzt war ihm die gute Tat eingefallen, mit der er diesen schönen Sommermorgen beginnen wollte. Er ging zur Türe, öffnete sie und rief sanft: »Zapper!«
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