Der laute Ton von Kirchenglocken erscholl.
»Was gibt es?« fragte Ambrosius.
»Abendgottesdienst«, erwiderte Lurch. »Heute ist Mittwoch!«
»Ah! Sally wollte hingehen.«
»Ja, Fräulein Sally ist fromm. Überhaupt die ganze Familie ist fromm«, bemerkte Lurch und lächelte.
»Ich gehe auch hin«, beschloss Ambrosius und eilte fort. In der Türe wandte er sich noch einmal um und sagte: »Zum Scherz – wissen Sie.«
Die Kirchenglocken riefen laut und ungeduldig durch die Gassen. Aus allen Häusern strömten Leute hervor – hastig – als fürchteten sie, gescholten zu werden, wenn sie säumten. Sie knüpften ihre Hutbänder oder zogen ihre Handschuhe erst auf der Straße an und eilten der Kirche zu. Nur einige Kommis und Schüler blieben sorglos stehen, rückten ihre Mützen schief, steckten ihre Hände in die Hosentaschen und pfiffen, als wollten sie zeigen, dass sie vom Kirchengehen nichts hielten.
Die Räume der kleinen Kirche waren ganz von Gläubigen erfüllt. Als Ambrosius hineintrat, stimmte die Orgel ein Lied an. Ein Chor dünner Frauenstimmen fiel ein und sandte langgezogene andächtige Noten zur Wölbung auf. Der Altar war mit einer reinlichen weißen Musselindecke und zwei Asternsträußen geschmückt. Über ihm erhob sich ein hohes Ölgemälde, Christus am Kreuz darstellend. Da das Kreuz und der Hintergrund dieselbe Farbe hatten, so machte der dürre gelbe Leib des Erlösers, einsam und tot im Leeren hängend, einen seltsam düsteren Eindruck. Vor dem Altar stand der Pfarrer, eine regungslose schwarze Gestalt.
Ambrosius lehnte an einem Kirchenstuhl und blickte forschend um sich. Neben ihm saß eine alte Dame in einem glänzenden Atlasmantel und mit einem großen Hut, überdeckt von roten Stachelbeeren. Sie sah Ambrosius streng und missbilligend an, legte ihr Taschentuch auf das Pult des Kirchenstuhls, die Füße auf die Fußbank, rückte an ihrem Sonnenschirm, der an einem Nagel unterhalb des Pultes hing, als wollte sie beweisen, dass sie all diese Vorkehrungen kenne und sich hier sicher und wie zu Hause fühle. – Rosa und Sally saßen nicht weit von Ambrosius nebeneinander. Beide hatten ihn bemerkt. Sally sandte ihm einen langen, ernsten Blick zu, dann warf sie sich in plötzlicher Zerknirschung auf die Knie, barg ihr Gesicht in ihre Hände, verharrte eine Weile in dieser Stellung und richtete sich mit schmerzvoller Miene auf, als habe sie einen argen Seelenkampf bestanden. Rosa benahm sich leichtfertiger. Sie blickte oft zu Ambrosius hinüber, lächelte einmal ganz unverhohlen, strich sich die Löckchen aus der Stirn, beugte sich an das Ohr ihrer Freundin und flüsterte ihr etwas zu, erhielt jedoch nur einen strafenden Blick.
Der Gesang verstummte.
Aller Augen richteten sich auf den Pfarrer, der ruhig dastand und emporblickte. Als er jedoch mit einem lauten »O Herr!« begann, schien es unerwartet zu sein, denn die alte Dame zuckte erschrocken mit den Schultern. Jetzt waren die tiefe Stimme des Geistlichen und ein beständiges Hüsteln, das die Runde durch die Gestühle machte, die einzigen Laute im Raum. Blätterschatten fuhren über den Estrich. Sonnenstrahlen spielten an den Wänden und übergoldeten zuweilen jäh das andächtige, faltige Gesicht einer alten Frau. Ambrosius gab sich willig der ruhigen, behaglichen Stimmung hin, in der all diese Menschen einträchtig beieinandersaßen, wie eine große Familie in einem alten Familienzimmer. Bei seiner Vorliebe für abgegriffene Worte nannte er das »idyllisch«. Eine flüchtige Aufmerksamkeit schenkte er auch der Predigt, die den Gang der zwei Jünger nach Emmaus erörterte. Vielleicht empfand er etwas von der Poesie dieser schönen Erzählung. Das Einhergehen von Zweien auf der nächtlichen Landstraße, das Besprechen der wundersamen Ereignisse, die Begegnung mit dem Erlöser, bei dessen Worten ihre Herzen brennen, das gemeinschaftliche Mahl, endlich – das Fortschaffen einer so betrübenden Tatsache, wie der Tod eines großen und geliebten Freundes ist. All das fand Ambrosius heute »idyllisch«.
Endlich der blonde Mädchenkopf, der leichtfertig in das große Gesangbuch hineinlächelte – der war gewiss »idyllisch«.
Ambrosius Tellerat liebte also Rosa, denn dieses dünkte ihn die einzige seiner würdige Beschäftigung in diesem kleinlichen Neste. Sobald Rosa sich auf der Straße zeigte, begegnete ihr Ambrosius und grüßte sie, bald mit dem höflich kalten Gruß des Weltmannes, bald mit einem innigen, vielsagenden Neigen des Kopfes. Er ging vor ihrem Fenster auf und ab und sandte ihr durch den Burschen seines Schusters einen Strauß. Was zu tun war, geschah.
Rosa freute sich natürlich ihres Triumphes; natürlich tat sie ihr Möglichstes, um Ambrosius aufzumuntern. Wenn er, sehr korrekt in einem dunklen Überzieher eingeknöpft, einen hohen, spiegelblanken Hut ein wenig schief auf dem Kopf, unter Rosas Fenster vorüberging, dann schaute sie jedesmal hinaus. Er grüßte hinauf, sie grüßte hinab, errötete – zog den Kopf vom Fenster zurück und steckte ihn gleich wieder hinaus. Ambrosius pflegte eine Weile dort stehenzubleiben. Er wiegte sich sachte in den Hüften, zog seine Manschetten weit über die Hände, die in neuen Handschuhen steckten, drehte seinen Spazierstock und blickte süß empor. Diese saubre, gepflegte Festtagserscheinung – denn einen so blanken Hut, so neue Handschuhe, so gute Kleider trug man im Städtchen nur an hohen Festtagen – diese Festtagserscheinung, die jeden Werktagsnachmittag vor Rosas Fenster stand und sie bewunderte, brachte einen großen und neuen Reiz in das Leben des Mädchens. Die selbstbewusste Kühnheit, mit der Ambrosius zu ihr emporstarrte, die gesuchten Stellungen, der Aufwand mit großen, sehr funkelnden Hemdknöpfen und breiten Manschetten, den er trieb, alles war ihr neu und anziehend; und die Sonnenstrahlen, die auf dem blanken Hut blitzten, umgaben den gefühlvollen Handlungsdiener der Firma Lanin mit einer leuchtenden Aureole.
Und musste es nicht so sein? Musste nicht dieses Mädchen, mit der fiebernden Phantasie und den fiebernden Sinnen seiner siebzehn Jahre, die ungeduldig über das stille bürgerliche Leben hinausdrängten, musste es nicht allem Neuen, Ungewohnten begierig zuflattern, und war jenes Neue auch nur ein Kommis, der seinen Sonntagsrock am Werktage trug? Das Sinnen und Träumen, dem sich Rosa in einsamen Stunden gern ergab, verlor viel von seiner Unbestimmtheit. Ihre Gedanken verdichteten sich vielmehr um die eine Gestalt. Mit der naiven Umständlichkeit solcher jungen, nach Genuss verlangenden Visionäre malte sie sich Begegnungen und Zusammenkünfte mit Ambrosius aus – reiche, glänzende Kleider, die ihn in Erstaunen setzten; seltsame, unmögliche Lebenslagen, in denen sie ihm groß und bewunderungswürdig erschien. Bald war sie reich und fuhr in einer Kalesche durch die Straßen; Ambrosius stand am Wege und grüßte; sie ließ halten und sagte, mit dem nachlässigen Lächeln einer Weltdame: »Aber Herr von Tellerat; steigen Sie doch ein!« – Sie winkte dabei mit dem Fächer. Gott ja! Rosa warf ihren Kopf auf die Lehne des Stuhles zurück und schloss die Augen, diese Träume regten sie auf und erhitzten ihr Blut:
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