Rosa trat an das Fenster und berichtete: Zu Hause sei es zu schwül gewesen, darum sei sie spazierengegangen.
Fräulein Sally saß am Fenster und hielt einen Roman in der Hand. Es war noch jemand im Gemach und rauchte. Rosa vermochte ihn nicht deutlich zu sehen, da er seitab vom Fenster stand, sie zweifelte jedoch nicht daran, dass es der Neue sei.
»Kommst du nicht herein, liebe Rosa? Es sitzt sich hier ganz allerliebst.«
Rosa fand ihre Freundin heute ungewöhnlich sanft; auch bemerkte sie an ihr einige feine Handbewegungen, die sie noch nicht kannte. Sie wunderte sich nicht darüber, denn die Zigarette, die im Hintergrunde des Gemaches leuchtete, übte auch auf Rosa ihren Einfluss aus und machte, dass sie manches tat und sagte, was ihr nicht ganz natürlich war.
Rosa wollte der Einladung ihrer Freundin nicht Folge leisten, sie hatte sich vorgenommen, spazierenzugehen, und Sally wusste ja, wenn sie sich etwas vornahm…
»Oh, der kleine Eigensinn!« rief Fräulein Sally. »Aber ich begleite dich, mein Herz.« Leiser fügte sie hinzu: »Vielleicht kommt er mit. Cousin«, sprach sie dann in das Zimmer hinein, »Sie machen wohl auch eine Promenade?«
»Unmöglich«, verlautete die Stimme aus dem Hintergrunde. »Unmöglich – bei dieser Hitze! Sie scherzen, Cousine!«
»Durchaus nicht«, erwiderte Fräulein Sally. »Gott, was die Herren verwöhnt sind!«
»Nicht doch«, rief Ambrosius und trat an das Fenster. »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, es geht nicht; ich muss ins Geschäft. Sonst – oh!«
Fräulein Sally erhob sich mit einem so ernsten Gesicht als wollte sie ein Vaterunser sprechen, und sagte: »Mein Cousin Tellerat – meine Freundin Rosa Herz.«
»Ah – es freut mich.« Ambrosius verbeugte sich. »Es tut mir leid, die Damen nicht begleiten zu können – in der Tat. Oh, meine Damen, Sie wissen nicht, was das heißt: Geschäfte im August.«
Fräulein Sally drohte neckisch mit dem Finger und hielt es für Trägheit, er aber legte die Hand auf das Herz und beteuerte das Gegenteil.
»Gut, wir gehen also allein. Ich hole meinen Hut.« Mit diesen Worten hüpfte Fräulein Sally davon.
Während ihrer Abwesenheit entspann sich eine höfliche Unterhaltung zwischen Rosa und Ambrosius; sie mit aufmerksam ernstem Gesicht und stetem Erröten, er, die Schulter leicht gegen den Fensterrahmen gelehnt – sehr gerade, mit ausgebogener Taille und beständigem Räuspern, wobei er den Rauch der Zigarette durch die Nasenlöcher trieb, denn, weiß es Gott warum, dieser junge Mann hielt einen beständigen Katarrh für weltmännisch und vornehm.
Sie sprachen über das Städtchen. Ambrosius meinte, es gefalle ihm, es sei nett; nett sei das rechte Wort dafür, worauf Rosa erwiderte, es sei recht freundlich. Ja, er gab das zu, zog jedoch den Ausdruck nett vor. Ein wenig still, wandte Rosa ein, sie fand es sogar zuweilen langweilig. Ein wenig kleinstädtisch, Gott, ja – Ambrosius hatte es nicht anders erwartet. Eine ruhige, gemütliche Geselligkeit war ihm gerade recht. Das bunte Treiben einer großen Stadt wird man auch müde, nicht wahr? Ah gewiss! Zur Erholung war es der rechte Ort. – Rosa verstand das wohl.
Dann kam Fräulein Sally zurück und rief ihrem Vetter scherzhafte Abschiedsworte zu, die dunkel genug waren. Beide lachten jedoch, zum Zeichen, dass sie sich verstanden.
Arm in Arm wanderten die beiden Mädchen dem Stadtgarten zu. Von dem gestrigen Streit war keine Rede mehr, sondern Fräulein Sally begann sogleich den Charakter ihres Vetters zu besprechen. Sie hatte einiges über die Kunstreiterin – denn eine Kunstreiterin war sie, das stand jetzt fest – in Erfahrung gebracht. Sie war der Ansicht, es sei nur eine momentane Verirrung gewesen, die von keinen Folgen sein dürfte.
»Er tut mir leid!« seufzte das gute Mädchen. »Siehst du, er hat ein gutes, sozusagen ein goldenes Herz. Heute morgen versuchte ich den zarten Punkt zu berühren. Du verstehst? Ich wollte andeuten, dass ich um die Sache weiß und ihn verstehe. Er wurde ganz ernst und sagte: ›Das ist vorüber, Cousine Sally.‹ Das klang im höchsten Grade beweglich. Dabei fuhr er sich mit der Hand über die Stirn: Das ist vorüber, Cousine Sally! Ist’s nicht rührend?«
»Sehr rührend«, bestätigte Rosa sachverständig.
»Nun«, fuhr Fräulein Sally fort, »da sah ich ihn – so – an.« Fräulein Sally riss die Augen weit auf und sagte ernst: »Weißt du – ganz ernst: ›Ist es auch vorüber?‹«
»Sehr gut!« schaltete Rosa ein.
»Also ist es auch vorüber? Da lächelte er – weißt du – so tief melancholisch und sagte: ›Ja nun, wie eben so etwas vorüber sein kann.‹ Auch sehr gut, nicht wahr?«
»Ja, ja«, meinte Rosa, »er glaubt, solche Wunden heilen nie ganz.«
»Natürlich! – Nun – ich nickte und fragte kurz und sanft: ›Der Name?‹ – Da seufzte er tief und sagte: – ›Rosina.‹ Aber wie er das Wort ›Rosina‹ sagte – das kannst du dir nicht denken.«
»Ich kann es mir denken«, versetzte Rosa gerührt.
»Nein – nein! Das kannst du dir nicht denken! – Rosina – Rosina.« Fräulein Sally legte in diesen Namen alle Andacht, über die sie gebot, dass er wie ein Gebet klang; es war aber doch nicht das Rechte: »Ich kann es dir eben nicht wiedergeben. ›Sprechen wir von etwas anderem‹, sagte er dann. Oh, er ist so sanguinisch, fast leichtfertig. So brach ich denn ab.«
Rosa ward nachdenklich. Dieser Ambrosius mit der Liebe zur schlechten Rosina erschien ihr anziehend. Das hübsche Gesicht, die schwungvollen Bewegungen; gewiss! Er hatte viel Einnehmendes. »Ich wüsste gern mehr hierüber«, sagte sie sinnend.
»Ja!« erwiderte Fräulein Sally und zuckte die Achseln: »Es lässt sich auch nicht alles weitersagen, was er seinen Verwandten anvertraut.« Dabei machte sie eine geheimnisvolle Miene und kniff die Lippen zusammen, um ostentativ zu schweigen.
Ambrosius hatte sich, wie er es den Damen gesagt hatte, in das Geschäft begeben. Dieses war jedoch so unerträglich heiß und voll starker, dumpfer Gerüche, dass es ihn im höchsten Grade verstimmte. Er setzte sich mitten auf den Ladentisch, trommelte mit den Absätzen auf die morschen Bretter und schaukelte träumerisch mit seinem Stöckchen eine Wurst, die über ihm an der Decke hing. Hinter ihm stand Conrad Lurch, maßloses Staunen in den Mienen. Er hatte es nie versucht, sich auf den Ladentisch zu setzen; nie war ihm der Gedanke gekommen, man könne das tun. Sein Kollege beachtete ihn jedoch gar nicht, schaukelte die Wurst, gähnte und starrte auf die trüben Fensterscheiben. Eine große, unklare Missstimmung hatte sich seiner bemächtigt. Noch war es kein ganzer Tag, dass er sich in der Stellung eines ersten Kommis der Firma Lanin befand, und doch war ihm diese Stellung schon gänzlich zuwider. Er langweilte sich, und Langeweile hielt er für ein Unglück. Ein unüberwindlicher Durst nach lauten, ungeordneten Vergnügungen erfüllte diesen jungen Mann. Von jeher hatte er ohne zu zaudern nach allem gegriffen, was ihn reizte, was nur im Entferntesten einen Genuss versprach. Als sechsjähriger Bube bemächtigte er sich jedes Kuchens, dessen er habhaft werden konnte, war es auch noch so streng verboten. War der Kuchen verzehrt, dann erst gedachte der kleine Ambrosius der Strafe und weinte. Als zwanzigähriger Junge war er ebenso achtlos und gedankenlos seinen Eltern davongelaufen, um einer Kunstreitertruppe zu folgen, nur weil ihm diese Welt der Tressen und Flitter in die Augen stach und weil eine alternde Kunstreiterin für vieles Geld sich herabließ, ihn zu lieben. Um einen Wunsch zu erfüllen konnte er Entschlossenheit und Tatkraft zeigen, wuchsen aber aus seinem Leichtsinne Schwierigkeiten und Mühsal, dann war er ohnmächtig.
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