Sein weiches, nervöses Gemüt ließ sich von dem geringsten Unfall, von der kleinsten Widerwärtigkeit niederdrücken. Ja, fehlte es seiner Umgebung auch nur an besonderer Heiterkeit, umgab ihn ein gewöhnliches ruhiges Leben, so fühlte er sich schon melancholisch und klagte über Weltschmerz. Der enge Laden, die schwere Luft und die trüben Fensterscheiben waren denn auch nicht geeignet, gegen diesen Weltschmerz anzukämpfen. So versank Ambrosius immer tiefer in sein übellauniges Brüten. Plötzlich ließ sich Lurchs sanfte Stimme vernehmen: »Dieses ist eine Pariser Wurst.«
»Wie?« fuhr Ambrosius auf, der vergessen hatte, dass er nicht allein sei.
»Ich meinte, Herr Tellerat…« wiederholte Lurch. –
»Von Tellerat«, unterbrach ihn Ambrosius. »Von – es ist italienischer Adel; di – heißt es – eigentlich di Tellarda, daraus Tellerardo, und so…«
»So hat sich das herausgebildet«, ergänzte Lurch aufmerksam.
»Natürlich«, entgegnete Ambrosius und begann leise vor sich hin zu pfeifen, bis Lurch wieder das Wort nahm: »Ich meinte vorhin, Herr von Tellerat, dass diese Wurst eine sogenannte Pariser Wurst sei.«
»He, diese?« Ambrosius schlug mit dem Stöckchen auf die Wurst und bemerkte dann: »Hart.«
Lurch folgte mit besorgtem Blick den Schwingungen der Wurst: »Glauben Sie nicht«, fragte er und errötete, »dass es ihr schaden kann, wenn man sie schlägt und schaukelt?«
»Die da?« Ambrosius holte wieder mit dem Stöckchen aus, aber Lurch rief angstvoll: »Schlagen Sie sie nicht! Es kann ihr nicht gut sein.« Er blickte innig zur Wurst auf; er hatte um sie gelitten; die alte, ehrwürdige Wurst, die ganze Familie liebte sie. War sie nicht schon lange im Geschäft? Natürlich kaufte sie niemand; sie war zu gut für das Städtchen. Aber ein großes Geschäft muss eine echte Pariser Wurst haben. Sie repräsentierte die Firma und war fast ein Glied der Familie. Nein, es war Sünde, sie zu schlagen.
Endlich brach Ambrosius sein düsteres Schweigen und bemerkte, dass er noch keinen Kunden im Laden gesehen habe.
»Am Nachmittag kommen sie nicht«, erklärte Lurch. »Am Abend pflegen die Herrschaften die Dienstmägde herzuschicken, um Kerzen, Käse, Petroleum…«
»Hübsche?« unterbrach ihn Ambrosius.
»Je nun, mein Gott! Hübsch sind sie nicht besonders. Eine vielleicht. Ja, die Käthe – die ist hübsch. Oh, ja! Die hat eine hübsche Nase, eine hübsche große Nase.«
»Ah! Aber womit vertreibt man sich hier denn die Zeit? An so etwas denkt hier niemand.«
»Doch«, erwiderte Lurch verlegen, obgleich er es nicht scheinen wollte. »Man unterhält sich hier recht gut. Ich – ja sehen Sie – an den Wochentagen bin ich hier beschäftigt. Aber Samstagabend – dann geh ich aus.«
»Wohin denn?«
»Wir haben nämlich«, Lurch dämpfte seine Stimme, »wir haben nämlich ein Kränzchen.«
»Kränzchen? Was für ein Kränzchen? Es gibt vielerlei Kränzchen!« rief Ambrosius.
»O bitte, sprechen Sie nicht so laut!« flehte Lurch. »Es ist eigentlich ein Geheimnis, obgleich nichts Böses daran ist.«
»Gut, gut! Ich sag’s nicht weiter.«
»Also bei Steining, dem Konditor.« Lurch sprach dieses Wort sehr gepflegt und die Anfangssilbe ganz französisch aus. »Dort versammeln wir uns im hintern Zimmer. Kennen Sie dieses Zimmer? Nicht? – Oh, ein wunderbares, einziges Zimmer! So traulich! Grüne Tapeten hat es und einen Kronleuchter. Recht elegant ist es. Alle möglichen Bequemlichkeiten finden Sie dort – drei Spucknäpfe, massiv von Messing.«
»Wer versammelt sich dort?«
»Wir sind unserer sechs. Da ist der Tomascher vom Advokaten Krug, dann Silt, Apfelbaum…«
»Was trinken Sie?«
»Bier, sehr feines Bier.«
»Hm –« warf Ambrosius vornehm und kühl hin, »Sie führen mich dort einmal ein.« – Lurch floss über von Dankbarkeit und Begeisterung: »Sie werden sich gut unterhalten. Gewiss! Es wird Ihnen gefallen. Es geht dort sehr heiter zu. Silt ist ein gar zu witziger Mensch. Sie können sich so etwas gar nicht vorstellen.« Lurch musste lachen, wenn er nur an Silt dachte: »Auch Apfelbaum wird Ihnen zusagen. Er ist ein wenig wüst, aber er erzählt sehr gut seine Raufereien mit den Metzgerburschen. Oh, und dann Waumer! Ein prächtiger Mensch. Was für Arme der hat! Den Armbrechen zu sehen, ist der höchste Genuss.«
»Gut, gut! Sie führen mich hin. Gott, was fängt man sonst an!« Ambrosius gähnte laut und streckte sich.
»Wir haben auch einen Namen für unser Kränzchen«, fuhr Lurch eifrig fort.
»Nun?«
»Gersten-Saft-Strauß. Ist das nicht einzig? Ein Strauß aus Gerstensaft. Wir sind die Blumen. Das hat sich Silt erdacht; wer wäre sonst darauf gekommen! Köstlich!«
»Allerdings!« meinte Ambrosius. »Originell – hm – allerdings.«
Eine Pause trat ein, die nur zuweilen von einem gewaltsam aufprasselnden Lachen unterbrochen ward, gegen das Lurch vergebens ankämpfte. Rötliche, schräge Sonnenstrahlen drangen durch die Fensterscheiben und fielen auf ein großes Behältnis voll gedörrter Fische, ließen dieselben wie bräunliche Goldbarren erglänzen und legten um die kleinen toten Köpfe winzige Heiligenscheine. Ambrosius fand das poetisch und bemerkte: »Sehen Sie, Lurch, ganz allerliebst –«
»Ja! Strömlinge«, erwiderte Lurch.
Ambrosius zuckte die Achseln. Er fand, dass es seinem Kollegen an Schönheitssinn gebrach, dann sagte er plötzlich: »Und Sally, was halten Sie von Sally?«
Lurch ward verwirrt und murmelte: »Sehr hübsch – gewiss – sehr hübsch –«
»Sie schielt?«
»Nein, o nein!« rief Lurch in großer Aufregung. »Ich habe das nicht bemerkt. Nein, ich glaube es nicht, dass sie schielt. –«
»Hm«, meinte Ambrosius. »Aber die Freundin?«
»Fräulein Rosa?« Bei diesem Namen ward Lurchs armes gelbes Gesicht ganz rot. »Fräulein Rosa ist sehr hübsch – sehr.«
Ambrosius blickte ihn spöttisch an. »Kommt sie zuweilen zu Ihnen?«
»Zuweilen, doch nicht zu mir. Sie besucht Fräulein Sally – dann ist Fräulein Sally zuweilen nicht hier – dann wartet Fräulein Rosa zuweilen im Laden.«
»Verliebt?«
»Nein, Herr von Tellerat! Gott, nein! Sie nimmt wohl hin und wieder einige Korinthen, aber das ist doch nicht Liebe.«
»Ich meinte auch nicht, dass sie Sie liebt –«
Lurch lachte gezwungen. »Das konnten sie natürlich nicht meinen. Nein! Einige Korinthen – weiter ist’s nichts.«
Ambrosius dachte nach, und zwar sehr tief, denn er legte sich mit dem Bauch über den Ladentisch und stützte den Kopf in die Hände. Was war es denn mit diesem Mädchen? Es war hübsch, es war blond – und blond musste nach seiner Ansicht ein Mädchen sein. Sollte er sich verlieben? Wäre Rosa Herz der geeignete Gegenstand? Es wollte ihm so scheinen, und er beschloss, Rosa Herz zu lieben. Er seufzte; das war der Anfang der Liebe; dann richtete er sich auf, schaute Lurch mitleidig an und sagte gefühlvoll: »Ja, hm – ein allerliebstes aschblondes Engelköpfchen.«
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