Roman Aus dem Spanischen von Christian Hansen
Selva Almada Sengender Wind
BERENBERG
Es bringt der Wind den Durst all der Jahre.
Es bringt der Wind den Hunger aller Winter.
Es bringt der Wind den Lärm der Weiden, Felder, Brachen.
Es bringt der Wind den Schrei der Frauen und Männer,
abgespeist mit Brosamen von der Herren Tische.
Es kommt der Wind mit der Wucht der neuen Zeit.
Es tost der Wind, dreht zu Wirbeln den Staub.
Wir sind der Wind und das Feuer, das mit christlicher Liebe die
Welt verwüstet.
Der Mechaniker hustete und spuckte aus.
»Meine Lunge ist morsch und faul«, sagte er, fuhr sich mit der Hand über den Mund und beugte sich dann wieder unter die offene Kühlerhaube.
Der Besitzer des Wagens trocknete sich mit einem Taschentuch die Stirn und steckte seinen Kopf neben den des Mechanikers. Er rückte seine dünnrandige Brille zurecht und schaute auf die Ansammlung heißen Metalls. Dann warf er seinem Nebenmann einen fragenden Blick zu.
»Man muss abwarten, bis sich der Motor etwas abgekühlt hat.«
»Können Sie das reparieren?«
»Schätze ja.«
»Und wie lange wird das dauern?«
Der Mechaniker richtete sich auf, er war anderthalb Köpfe größer als der andere, und schaute zum Himmel. Es ging auf Mittag zu.
»Schätze, bis zum frühen Abend.«
»Wir werden hier solange warten.«
»Wie Sie wollen, Bequemlichkeiten gibt es keine, sehen Sie ja.«
»Wir warten lieber. Mit Gottes Hilfe sind Sie vielleicht schneller fertig als gedacht.«
Der Mechaniker zuckte die Schultern und zog eine Packung Zigaretten aus der Hemdtasche. Er bot sie dem anderen an.
»Nein, nein, ich habe gottlob schon vor Jahren damit aufgehört. Sollten Sie auch tun, wenn ich das sagen darf …«
»Der Getränkeautomat tut’s nicht. Aber im Kühlschrank müssten noch ein paar Dosen liegen.«
»Danke.«
»Sagen Sie dem Fräulein, sie soll aussteigen. Im Auto wird sie gegrillt.«
»Wie war gleich Ihr Name?«
»Brauer. Gringo Brauer. Und das da ist Tapioca, mein Gehilfe.«
»Ich bin Reverend Pearson.«
Sie gaben sich die Hand.
»Ich muss noch ein paar Sachen erledigen, bevor ich zu Ihrem Wagen komme.«
»Aber ich bitte Sie. Machen Sie sich um uns keine Sorgen. Gott segne Sie.«
Der Reverend ging zum hinteren Teil des Wagens, wo seine Tochter Leni mürrisch das winzige Fleckchen besetzt hielt, das ihr die auf der Rückbank und im Fußraum gestapelten Kisten mit Bibeln und erbaulichen Schriften übrig ließen. Er klopfte ans Seitenfenster. Leni schaute ihn durch die staubige Scheibe an. Er wollte die Tür aufmachen, aber seine Tochter hatte sie verriegelt. Er bedeutete ihr, sie solle das Fenster herunterkurbeln. Sie öffnete es einen kleinen Spalt.
»Es wird ein Weilchen dauern, bis das repariert ist. Steig aus, Leni. Lass uns was Kühles trinken.«
»Mir geht’s hier gut.«
»Es ist furchtbar heiß, Kind. Denk an deinen Kreislauf.«
Leni kurbelte das Fenster wieder hoch.
Der Reverend öffnete die Beifahrertür, griff um die Ecke, zog den Knopf hoch und öffnete die hintere Tür.
»Komm raus, Elena.«
Er hielt die Tür auf, bis Leni ausgestiegen war. Kaum war sie draußen, schlug er sie wieder zu.
Das Mädchen zupfte ihren Rock zurecht, der ihr am Körper klebte, und schaute hinüber zu dem Mechaniker, der mit einem Kopfnicken grüßte. Ein Junge, vielleicht so alt wie sie, sechzehn Jahre, sah mit großen Augen zu.
Der ältere Mann, den ihr Vater ihr als Señor Brauer vorstellte, war hoch aufgeschossen und trug einen rotblonden, hufeisenförmigen Schnurrbart, dessen Spitzen bis zum Kinn reichten, außerdem ölverschmierte Jeans und ein über der Brust offenes, in die Hose gestopftes Hemd. Obwohl schon um die fünfzig, hatte er sich einen jugendlichen Ausdruck bewahrt, was sicher an seinem Schnurrbart lag und an den langen Haaren, die bis herunter auf den Hemdkragen fielen. Auch der Junge trug eine alte Hose, an den Knien geflickt, aber sauber, dazu ein verwaschenes T-Shirt und Bastschuhe. Sein schwarzes, glattes Haar war akkurat geschnitten, sein Gesicht zeigte nicht die Spur von Bartwuchs. Beide waren dünn, ihre Körper aber drahtig wie die von Leuten, die an rohe Gewalt gewöhnt sind.
Rund fünfzig Meter entfernt lag der schäbige Gebäudekomplex, der als Tankstelle, Werkstatt und Wohnung diente. Hinter der alten Zapfsäule stand ein unverputzter Backsteinklotz mit einer Tür und einem Fenster. Nach vorn raus, an einer Ecke, standen im Schatten eines mit Schilf und Zweigen gedeckten Vordachs ein kleiner Tisch, ein Stapel Plastikstühle und der Getränkeautomat. Unter dem Tisch schlief auf der nackten Erde ein Hund, der, als er sie herankommen hörte, ein gelbes Auge öffnete und ohne sich ansonsten zu rühren mit dem Schwanz den Boden wischte.
»Hol ihnen was zu trinken«, sagte Brauer zu dem Jungen, nahm ein paar Stühle vom Stapel und fuhr mit einem Lappen drüber, damit sie sich setzen konnten.
»Was möchtest du trinken, Kind?«
»Eine Cola.«
»Für mich bitte ein Glas Wasser, das größte, das du hast, mein Sohn«, bat der Reverend, während er sich setzte.
Der Junge teilte den Vorhang aus Plastikschnüren und verschwand im Innern.
»So Gott will, ist der Wagen gegen Abend fertig«, sagte der Reverend und trocknete sich mit dem Taschentuch die Stirn.
»Und wenn er nicht will?«, antwortete Leni, während sie sich die Hörstöpsel des Walkmans ins Ohr schob, den sie immer am Gürtel trug. Sie drückte auf Play, und ihr Kopf füllte sich mit Musik.
Gleich neben dem Haus, fast bis an den Straßenrand, lagerte haufenweise Schrott: Autowracks, Reste von landwirtschaftlichem Gerät, Räder, Reifenstapel: dem Anschein nach ein Friedhof für Fahrgestelle, Achsen und verbogene Eisenteile, die hier unter der glühenden Sonne ihre letzte Ruhestätte fanden.
Nachdem sie mehrere Wochen lang durch die Provinz Entre Ríos gereist waren – von Norden her am Río Uruguay entlang bis hinunter nach Concordia, wo sie auf die Nationalstraße 18 eingebogen waren, die die Provinz genau auf der Hälfte bis Paraná durchquert –, beschloss der Reverend, die Fahrt in Richtung Chaco fortzusetzen.
In Paraná, seiner Geburtsstadt, blieben sie ein paar Tage. Zwar besaß er dort keine Verwandten oder Bekannten mehr, weil er schon in jungen Jahren fortgegangen war, doch kam er hin und wieder gern vorbei.
Sie stiegen in einem billigen Hotel nahe beim alten Busbahnhof ab, einer engen und bedrückenden Unterkunft mit Blick aufs Rotlichtviertel. Leni vertrieb sich die Zeit damit, durchs Fenster dem müden Kommen und Gehen der Prostituierten und Transvestiten zuzuschauen, die gerade so viel am Leib trugen, dass sie sich fast nicht ausziehen mussten, wenn ein Freier erschien. Der Reverend, der kaum aus seinen Büchern und Papieren aufschaute, hatte keine Ahnung, wo sie gelandet waren.
Letztlich fand er doch nicht den Mut, das Haus seiner Großeltern zu besuchen, wo er geboren und bei seiner Mutter aufgewachsen war, und wo es nur sie und ihn gab – sein Vater, ein nordamerikanischer Hallodri, hatte sich vor seiner Geburt mit den wenigen Ersparnissen seiner Schwiegereltern aus dem Staub gemacht –, doch nahm er Leni mit zu einem alten Erholungspark am Ufer des Flusses.
Sie gingen zwischen betagten Bäumen spazieren, und an den Stämmen sahen sie, wie hoch das Wasser mal gestanden hatte, je näher am Ufer desto höher; einige Bäume bewahrten bis in die obersten Zweige Schlickreste von früheren Hochwassern. Auf einem Steintisch aßen sie zu Mittag, und der Reverend sagte, als Kind sei er mehrmals mit seiner Mutter hergekommen.
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