»Mal sehen, was sich machen lässt.« Klara lächelte. »Es ist wirklich schön, dich bei der Arbeit zu sehen.«
Frederike grinste verlegen. »Na ja, manchmal fehlt es mir schon ein bisschen.«
»Ich werde mal mit Heike reden. Sie arbeitet bei uns auf der Station. Die ist nett. Vielleicht kann sie uns mit den Dienstplänen helfen.«
»Wie ist denn überhaupt die Stimmung in der Belegschaft?«
»Ich habe den Eindruck, dass das Thema heruntergespielt wird. Das will natürlich keiner wissen. Dementsprechend wird abgewiegelt, wenn man die Pflegekräfte darauf anspricht.«
»Meinst du, dass hier jemand mauert?«
»Ach, so würde ich das nicht nennen. Aber man möchte natürlich keine Unruhe bei den Kunden!« Klara wiegte mit dem Kopf. »Bisher ist die Auslastung ja gut. Es gibt sogar eine Warteliste. Aber wenn es sich rumspricht, dass man hier schneller den Löffel abgibt, als man gucken kann, wird sich das flott ändern.«
Frederike grinste böse. »Vielleicht erschließt es ja auch neue Zielgruppen. So kommt man schneller ans Erbe.«
Klara drohte mit dem Finger. »Vorsicht! Du bringst die Leute noch auf dumme Gedanken.« Sie erhob sich. »Ich muss jetzt zum Seniorenturnen.«
Frederike stand ebenfalls auf. »Was willst du denn beim Turnen? Ich wäre froh, wenn ich noch so fit wäre wie du.«
Klara gluckste stolz, bückte sich und drückte bei durchgestreckten Knien ihre Handflächen auf den Boden. Am Nebentisch wurde applaudiert. Klara bewegte sich wieder in die Senkrechte und knickste kurz in Richtung der Klatschenden. Frederike lachte, nahm ihren Arm und hakte sich ein. »Du bist mir ’ne Marke!«
Gemeinsam gingen sie in Richtung des Turnraums. Als sie sich an der Tür verabschiedeten, kündigte Frederike an, in den nächsten Tagen wieder vorbeizuschauen. Sie küsste Klara auf die Wange. »Ich bin froh, dass ich zu dir gekommen bin.«
Klara lächelte. »Fast wie früher, als wir gemeinsam das große Puzzlespiel gelegt haben.«
»Fast!«, lächelte Frederike zurück, winkte noch einmal kurz, drehte sich um und verließ die Anlage.
Als sie im Auto saß, atmete sie tief durch. Sie verspürte wieder dieses Kribbeln – wie in alten Zeiten. Klara würde ihr jetzt ein paar Antworten beschaffen. Bei dem Gedanken befiel sie ein plötzliches Unbehagen. Was wäre, wenn Klara mit ihrer Vermutung recht hätte? War wirklich ein Todesengel am Werk? Dann begab sie sich möglicherweise in Gefahr, wenn sie Fragen stellte. Nicht dass sie soeben Klara zur Zielscheibe gemacht hatte …
Endlich war die Sonne wieder da. Die letzten beiden Tage waren schwül und völlig verregnet gewesen, und auch wenn Frederike über die Wassermengen im Garten froh war, tat es nun gut, wieder rausgehen zu können. Sie hatte bereits morgens früh mit Unkrautjäten begonnen. Dabei ging es ihr weniger darum, einen perfekt gepflegten Garten zu haben. Sie liebte kreatives Chaos in den Beeten und sorgte nur dafür, dass das Wildkraut nicht überhandnahm. Während sie die Wurzeln entfernte, schickte sie ihre Gedanken auf Reisen. Es machte ihr Freude, Pflanzen und deren Aussehen und Eigenschaften mit Menschen in Verbindung zu bringen. Klara war in ihrer Vorstellung eine Margerite, hell und freundlich, eine dezente Schönheit im Beet, die sich mit allen gut vertrug, die um sie herum wuchsen. Angela war wie eine Lilie, ein echter Solitär, herrlich duftend und besonders, aber auch ein wenig empfindlich. Welche Blume wäre sie selbst? Bei anderen war das viel leichter zu beantworten als bei sich selbst. Vielleicht ein Lavendel? Sie mochte den Duft und die eigentlich ein wenig unscheinbaren Blüten. Eher eine Begleitpflanze, gut zu gebrauchen. Ja, sie wäre ein Lavendel. Sie nahm sich vor, am Nachmittag mit Angela über ihre Blumenanalogien zu sprechen. Mal sehen, welche Pflanze Angela für Frederike in petto hatte.
Nachmittags saßen Frederike und Angela im Garten auf zwei bequemen Liegestühlen, jede mit einem großen Pott Kaffee in der Hand. Von Weitem hörte man das Geschrei der beiden Nachbarsenkel Lena und Kai, die auf der Straße Fahrrad fuhren, nachdem sie sich bei Frederike mit frisch gebackenen Marzipanschnecken eingedeckt hatten. Hannelore lag zusammengerollt im hohen Gras und schlief, umsummt von ein paar Fliegen. Manchmal, wenn diese allzu dreist waren, peitschte der Schwanz hin und her, aber der Kater war viel zu müde, um sich allzu sehr um seine Umgebung zu scheren.
Frederike stellte die Kaffeetasse auf der Lehne ab.
»Vorgestern war ich bei Klara im St. Ägidius. Meine alte Nachbarin. Ich weiß nicht, ob du dich an sie erinnerst?«
»Klara? Aber sicher.« Angela schaute zu Frederike. »Ich habe ihr früher beim Einmachen geholfen.«
Frederike schmunzelte. »Ich auch.«
»Und mir anschließend den Bauch mit Waffeln und frisch gekochter Marmelade vollgeschlagen.« Angela schloss die Augen in wohliger Erinnerung.
»Ich auch. Oh, war das gut!« Beide gaben sich eine Weile ihren Erinnerungen hin.
»Wie geht es ihr? Sie hat sich doch bestimmt gefreut, dass du vorbeigeschaut hast.«
»Ja, das hat sie. Und ich hatte dann auch gleich ein schlechtes Gewissen, dass ich das nicht schon viel früher getan habe. Aber irgendwie kommt ja doch immer etwas dazwischen. Heute ist es die Gartenarbeit.« Frederike seufzte.
»Ja, das kenne ich gut. Und schwuppdiwupp ist die Woche schon wieder um … Hat sie etwas über die Todesfälle erzählt?«
Frederike nickte bedächtig mit dem Kopf. »Ja, einiges. Ich habe den Eindruck, dass da mehr dahintersteckt.«
Angela grinste. »Das wäre dir doch bloß recht. Ich hatte die letzten Monate den Eindruck, dass du dich langweilst.«
Frederike schaute sie erstaunt an. »Ich mich langweilen? Wie kommst du denn darauf? Ich hätte nie gedacht, wie wohltuend so ein Rentnerinnendasein ist. Nein, im Ernst: Klara hat Angst.«
Das Lächeln schwand aus Angelas Gesicht. »Angst? Das ist dann wirklich übel. Ich habe nie erlebt, dass sich Klara von irgendetwas aus der Ruhe bringen lässt.«
»Genau.« Frederike erzählte Angela von Klaras Befürchtungen.
Angela trank den letzten Schluck Kaffee. »Ich habe mich inzwischen bei uns auch schon mal umgehört. Kathrin, meine Kollegin, hatte kürzlich selbst einen Todesfall in der Familie. Mit ihr habe ich mich gestern in der Cafeteria getroffen und sie ausgequetscht.«
Frederike hörte gespannt zu.
»Es ging um ihre Tante. Sie lebte erst seit einer Woche im St. Aegidius, war dort gestürzt und kurz darauf verstorben.« Angela zupfte mit ihren nackten Füßen etwas Gras aus. »Ich glaube, das spielt für uns keine Rolle.«
»Wahrscheinlich nicht. Warum erzählst du es dann?«
Angela streckte Frederike die Zunge heraus. »Du hast gesagt, du wolltest alles über die Todesfälle wissen«, sie stockte kurz, »… und außerdem gab es eine Besonderheit während der Beerdigung.«
Frederike seufzte auf. »Könntest du mal aufhören, dir alles aus der Nase ziehen zu lassen? Was war auf der Beerdigung?«
»Eigentlich hatte sich Kathrins Tante ein Urnenbegräbnis gewünscht und auch alles so schon mit dem Beerdigungsinstitut vereinbart. Aber das ging nicht.«
»Man hat auf einem normalen Begräbnis bestanden? Dann ist da aber jemand sehr misstrauisch geworden.«
»Na ja, ›bestanden‹ ist zu viel gesagt, eher ›angeregt‹. Kathrins Mutter war ganz schockiert. Man hatte ihr gesagt, dass es wohl ein natürlicher Tod gewesen sei. Der Verzicht auf eine Feuerbestattung sei eine reine Vorsichtsmaßnahme.«
»Pffft!« Frederike machte ein abfälliges Geräusch. »Das glaubt doch kein Mensch. Nein, da läuft im Hintergrund schon was.«
»Du kannst dir ja vorstellen, dass bei der Beerdigung ganz schön getuschelt wurde. Kathrin hatte alle Hände voll zu tun, ihre Mutter zu beruhigen. Die hat sich dann auch gleich von der Warteliste für das Heim streichen lassen. Eigentlich wollte sie in den nächsten Monaten zu der Tante ziehen. Offiziell heißt es jetzt natürlich, dass dazu ja nun keine Notwendigkeit mehr besteht. Aber ich glaube eher, die macht sich Sorgen, dass sie schneller zu ihrer Schwester zieht als erwartet. Nämlich auf den Friedhof!«
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