Direkt gegenüber lag der Rialto-Markt, daneben die Rialto-Brücke.
Das ist mein Theater, sagte Aretino, Aufführungen täglich und kostenlos.
Der Rialto-Markt wurde bereits abgeräumt. Der Boden war bedeckt mit Gemüseresten, zerdepperten Eiern und geplatzten Früchten; was nicht verkauft worden war, schleppten die Marktleute in Kisten und Körben zu den Lastkähnen. An der Brücke drängelten sich wie üblich die Bankleute, die Großhändler und die Fremden, sie hatten vermutlich dasselbe Ziel; direkt am Rialto lagen die Absteigen der Käuflichen, der billigen, die ihre Kunden schneller zufriedenstellten, als eine halbe Kerze herunterbrannte.
Um den Rialto kam keiner herum, also auch nicht ums Aufklären der Kinder. Eine Ecke weiter, am Ponte delle Tette, konnte außerdem jeder bei fast jedem Wetter sehen, wie Haus für Haus, Etage für Etage, Fenster für Fenster die Mieterinnen ihre Brüste vorzeigten, mit den Händen unter der Ware, als wären sie Marktfrauen mit frisch gerupften Wachteln.
Sogar der Himmel ist hier an manchen Tagen ein Spektakel, spannender als jedes Stück auf der Bühne, sagte Aretino, wenn die Wolken sich bedrohlich jagen oder auf einmal in Flammen stehen, als wäre ein Weltenbrand ausgebrochen. Er richtete seinen Blick aber nicht nach oben, nur auf die Holzbrücke, die als einzige über den Kanal führte, vor vier, fünf Jahren zusammengebrochen, durch dieses lumpige Provisorium ersetzt worden war und nach wie vor in einer Stunde mehr Leute aushalten musste als andere Brücken in einem Monat. Seit Jahrzehnten war von der Regierung eine Steinbrücke an dieser Stelle beschlossen und geplant, aber nicht mit allem waren die Venezianer so schnell wie mit dem Erfinden und dem Stehlen. Früher hatte die Familie Rampani geflucht, wusste ich von meinem Vater, nichts wert ihre Immobilien in dieser Gegend, laut, dreckig, überlaufen; längst schickten sie Dankgebete an die Märtyrerin Corona, Schutzpatronin des Geldes, der Schatzgräber und der Fleischer. Mein Lehrer hatte mir erzählt, dass sie auf Sizilien an zwei heruntergebogenen Palmen festgebunden worden war, die sie emporschnellend in zwei Teile rissen. Mit Tranchieren hatte das vielleicht zu tun, aber mit Geld? Weil man damit andere zerlegen konnte? Stinkreich waren die Rampani geworden mit Stundenhäusern in den Carampane rings um den Rialto.
Die Huren des Geldes suchen ihresgleichen.
Aretino sah mich an
… sagt meine Mutter.
Recht hat sie. Bei euch in Venedig gibt es mehr Bankhäuser und mehr Huren als sonst wo, Geldgeschäft und Liebesgeschäft sind nirgendwo besser organisiert als hier. Es kommen auf stark siebzigtausend Venezianerinnen achttausend, die ihr Geld mit diesem Gewerbe machen, dazu kommen um die dreitausend von auswärts, von Kreta oder von der Terraferma, aus Spanien, der Türkei, Albanien. Aber nur höchstens dreihundert von ihnen können ein Leben führen, das diesen Namen verdient. Die anderen verenden erbärmlich wie herrenlose Hündinnen, nur langsamer und vor Zuschauern.
Die Brühe, in der das Geflügel badete, war stark, roch nach Rosmarin, Nelke und Lorbeer, und oben schwammen Granatapfelkerne.
Aretino mochte offenbar nichts Schwaches, zeigen mochte er es jedenfalls nicht. Der Wein in seinem Glas war schwarzrot, mit den Ringen an seinen Fingern konnte man Scheiben einschlagen oder auch Zähne.
Während wir die Hühnersuppe löffelten, malte er mir das Dasein der zehntausendsiebenhundert übrigen Käuflichen so genau aus, wie das nur einer konnte, der es gründlich studiert hatte, haarklein und läuseklein.
Wie schön sie ist, wie wunderschön; für meine Mutter war bei Altarbildern nur wichtig, wie die Madonna aussah. Mir war die Madonna egal, ich mochte Gemälde, die von Carpaccio und den Bellini vor allem, wo nichts ausgelassen wurde. Die malten bei den Alten jede Runzel im Gesicht und jede Warze, bei den Büßern die gedörrten Bäuche, bei den Stiftern das feiste Doppelkinn, bei den Dogen dieses Trostlose im Blick. Die pinselten auf Altäre und andere Kirchenbilder die Wirtshausschilder, das Gedränge hässlicher Kamine auf den Dächern, das Fell der Schoßhunde, die starken Schultern der Negersklaven am Ruder, und die trauten sich auch mal eine Muttergottes, die wie eine Wasserleiche aussah, wenn sie ihren toten Sohn anstarrte mit dem räudigen Verwesungsbart und den blutigen Löchern durch die Handrücken.
Aretino schaffte etwas Ähnliches mit Wörtern.
Die Gebäude in den Carampane waren verwahrlost, die Balkone vom Absturz bedroht, die Treppen abgetreten, die Geländer rostig, dass man rote Finger davon bekam, die Böden morsch, von den Fenstersimsen bröckelte es herunter, in den Wänden saß der Hausschwamm, und alles aus Stoff – Kleider, Decken, Wäsche – stank muffig. Mäuse, Wanzen und Kakerlaken krochen durch die Ritzen und Spalten. Die Matratzen waren durchgelegen, ein sauberes Laken war schon Luxus, der Geruch in den Zimmern beißend. Wegen der hohen Nachfrage konnten die Vermieter Wucherpreise von den Frauen abzocken; von den Frauen? Von den Mädchen, irgendetwas zwischen zwölf und achtzehn. Erwachsen waren die Kupplerinnen, meistens die Mütter der jungen Käuflichen, die selber mit dreißig, fünfunddreißig viel zu alt für den Beruf waren oder zu krank. Manche schafften es nur ächzend hinauf in den zweiten oder dritten Stock, die Beine, das Kreuz, die Füße, mein Gott, manche waren verfault von innen heraus wie ein schlechter Kürbis, dem man außen noch nichts ansah, der dann auf einmal zu übel riechendem Matsch zusammenfiel. Die Matrosen und die Fremden aus aller Welt rückten meistens im vollen Saft, schwitzend und ungewaschen bei den Mädchen an und brachten immer wieder etwas Neues mit, um sie anzustecken, und die Franzosenkrankheit hatte schnell Italienisch gelernt. Trotzdem dachte die Regierung nicht im Traum daran, das Ganze zu verbieten; von dem, was hier eingenommen wurde, griff sie sich Steuern, und zwar nicht zu knapp.
Aretino zog mich wieder ins Freie und zeigte auf die Arkaden des neuen Fleischmarkts.
Obendrüber, du siehst die Fensterreihe, sitzen sechs piekfeine Herren aus piekfeiner Familie in piekfeinen Büros. Sie richten über die Käuflichen und die Kupplerinnen, männliche Zuhälter haben sie verboten, die waren zu oft in Schlägereien verwickelt, und das mag man hier nicht, schadet dem Fremdenverkehr. Die Aufgabe macht ihnen Spaß, den piekfeinen Herren. Sie arbeiten eng zusammen mit den Kriminalbeamten fürs Nachtleben, Signori di Notte al Criminal nennen die sich, denen und ihren Handlangern überlassen sie die grobe Arbeit und erfreuen sich an den Berichten. Auf diese Weise erfahren sie, zu welchen Veilchen man besser nicht geht, und mit solchen Tipps machen sie sich beliebt.
Veilchen sagen eigentlich nur die Einheimischen zu den Huren. Aretino war zugezogen, er hatte offenbar rasch gelernt. Mein Vater musste immer dringend etwas Wichtiges erledigen, sofort, wenn ich ihn befragt hatte zu diesen Herren der Nacht. Aus Aretino sprudelte es ungefragt heraus.
Die sind zuständig für die allgemeine Sicherheit, schwärmen nachts mit ihren laternenbewaffneten Agenten aus, fangen ein, wer ihnen verdächtig erscheint, Glücksspieler, Taschendiebe, Gotteslästerer, Einbrecher, Hurengänger, die angeblich Ärger machen, und verhören sie sofort. Ihr Büro liegt im Dogenpalast, und zwar dort, wo das Seil aufbewahrt wird, mit dem diejenigen erwürgt werden, die man unauffällig beseitigen will. Die Herren der Nacht haben die Oberaufsicht über die Folterkammern und das Recht zu Hausdurchsuchungen. Ihre Stellen sind begehrt, trotzdem sind die Chancen dranzukommen nicht schlecht, die Stellen sind zeitlich befristet. So einfach kann man sich bei den Leuten beliebt machen.
Als ich meinen Teller leer gegessen hatte, sah ich ein Paar beim Liebesakt.
Odysseus mit der Zauberin Kirke, sagte Aretino, gute Majolika aus Faenza.
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