Ich verließ das Haus am späten Nachmittag. Eine Viertelstunde würde ich brauchen; nicht zum Palazzo Bolani ging ich, sondern zum Rio della Misericordia, zur alten Fedele. Mein Grund dafür hatte einen Namen: den des Mannes, den ich am Abend zuvor weggeschickt hatte. Lorenzo Venier.
Er war ein Freund von Aretino.
Sie machte einen Schritt zurück in ihre Höhle, aus der es mich modrig anwehte, als sie mich vor der Tür stehen sah. Der Geruch beruhigte mich.
Es ist fast drei Jahre her, sagte ich.
Drei Jahre, zwei Monate und ungefähr sechs, sieben Tage, sagte die Fedele und ließ mich ein.
Bei alten Menschen werden die Augen meistens stumpfer und blasser, tiefbraune werden ockergelb, azurblaue immer wässriger. Ihre glänzten nach wie vor saftig und prall wie schwarze Oliven. Alles andere an ihr war rissiger und trockener geworden. Ich saß am Fuß der Leiter, sie hinter dem Schreibtisch.
Sie nahm die Brille ab und musterte mich langsam von oben bis unten, als müsste sie ein Gutachten über mich erstellen. Mein neues Kleid schien Lärm zu machen in diesem Zimmer.
Bestens, sagte sie. Alles bestens, schnell sind die Knospen aufgegangen, arg schnell. Also: Warum auf einmal wieder hier bei mir? Hat er dich hinausgeworfen aus seinem Kreis?
Irgendwoher wusste sie das mit Aretino, von ihm selbst bestimmt nicht und von mir auch nicht.
Reglos wartete sie ab, den Hals gereckt, den Rücken durchgedrückt, die Unterarme auf der Schreibtischplatte, genau parallel. Unmöglich, vor dieser Wachsamkeit davonzulaufen. Ich ergab mich und zog im Kopf alles aus, was ich hatte anbehalten wollen. So stellten die hinter den Spitzenbortengittern sich vermutlich eine richtige Beichte vor.
Nur die Augen musste ich schließen beim Erzählen, damit ich mich auf dem weiten Weg zurück nicht verlief.
Ca’ Bolani, hatte Aretino mir gesagt, Samstagmorgen um halb zwölf. Er sagte nicht Palazzo Bolani, wie die meisten hier, seit er drin wohnte, nur Ca’.
Ich kannte es von außen, das Haus, irgendwann mal ochsenblutrot angestrichen, aber längst verblichen. Die Front zum Kanal hinaus machte Eindruck und war halbwegs in Ordnung, an der Rückseite blätterte der Putz.
Die Bolani hatten das Haus vermietet, beim derzeitigen Wohnungsmangel in Venedig war in dieser Lage einiges herauszuholen. Mein Vater wusste – woher, war leicht zu erraten –, dass Aretino deutlich weniger zahlte als dort üblich, weil er etwas in der Hand habe gegen die Bolani, wurde geraunt, ungewohnt leise geraunt; Beweise fehlten. Das wäre kein Hindernis gewesen, ihn reinzuhängen, aber Aretino war eins; niemand wollte sich mit ihm anlegen, nicht einmal anonym. Aretino findet alles heraus, hieß es. Mein Vater bedauerte, dass er keinerlei Interesse an einer Stelle bei der Geheimpolizei zeigte.
Ich kam von der Rückseite, von der Wasserseite her kamen nur die Wichtigen und die Lieferanten. Im Treppenhaus roch es nach Hühnersuppe, von oben fiel ein Schwarm von Stimmen über mich her, Frauenstimmen, Mädchenstimmen, nichts Tiefes. An den Wänden hingen Gemälde in Goldrahmen, Goldrahmen im Treppenhaus! In den Nischen zwischendrin standen bemalte Keramikvasen, groß wie Fünfjährige. Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock erwartete mich eine, die eher zur Hühnersuppe als zu den Goldrahmen passte. Ihre Schürze sah nach blutiger Arbeit aus, die Hand, die sie daran abwischte, auch. Hinter ihr tauchte eine Zweite in einem weißen bodenlangen Unterkleid auf, die bei den Malern sofort als Magdalena posieren konnte, dafür waren lange offene wellige Haare und schwere Brüste gefragt, es störte nur die schiefe Nase; dann eine Dritte, vielleicht fünfzehn, mit Kindergesicht und Melonenbauch. Da hörte ich ihn. Sein Hausmantel raschelte, Seide vor dem Mittagessen. Die Frauen fassten ihn an, als wäre er ein Wunderheiler, die Magdalena lehnte ihren Kopf an seine Schulter, er zog mich in den Portego.
Wer aus Verhältnissen wie meinen kam, wusste bestenfalls, dass sich der große zentrale Raum in solchen Häusern von der Vorderseite bis zur Rückseite erstreckte; von innen kannte ich nur zwei solche Säle, einer gehörte dem Vater der kastrierenden Patentante, einer ihrem Bruder. In beiden Porteghi hingen ausgestopfte Tierschädel, verstaubte Fahnen, ein paar alte Schwerter und andere Waffen an den Wänden, dazwischen schwarz gewordene Porträts irgendwelcher Ahnen. Offensichtlich fanden Männer das nett, denn Frauen hatten dort wenig bis gar nichts zu suchen, die hielten sich in den kleinen Räumen rechts und links davon auf, in denen Küche, Wirtschaftskammern und Schlafzimmer untergebracht waren, oder, wenn es eines gab, im Stockwerk darüber. Düster waren diese offiziellen Hallen wohl immer, nur an der Schmalseite Fenster und dann der lange Schlauch, auf den noch eine Balkendecke oder Kassettendecke drückte. Die teuren Terrazzoböden waren eiskalt, kälter als unsere billigen Holzböden, bei den Reichen lagen unter dem Portego Vorratskeller mit Zuckersäcken, Salzsäcken, Gewürzkisten, Öl- und Weinfässern, Gewölbe, in die es vom Kanal her hineinzog.
Aretino hatte die Teppiche auf dem Terrazzo übereinandergeschichtet. In seinem Vorzeigezimmer leuchtete und blinkte und glänzte es. Von den Balken hingen gleich drei Muranolüster, die Kerzen brannten am helllichten Tag. Aretino musste mit einem Spiegelhersteller verwandt sein, anders war nicht zu bezahlen, was hier in sämtlichen Formaten dafür sorgte, dass die Beleuchtung sich vervielfachte.
Schöner als ausgestopfte Tierschädel, Fahnen, Waffen und Ahnenporträts fand Aretino anscheinend Gemälde mit nackten Menschen. Engel und Jesuskinder, sonst waren mir bisher auf Bildern Nackte oder fast Nackte kaum begegnet, nur als Büßer in einer felsigen Einöde oder als Sünder in der Hölle, beides ungemütlich, die einen froren, die anderen schwitzten, die einen sahen verbittert aus, die anderen verzweifelt.
Was auf den Gemälden hier los war, hatte ich noch nie gesehen. Nackte Frauen rannten vor sonnengebräunten Männern davon, einige hatten Bocksbeine und Bocksohren, einem nackten schlafenden Mädchen wurde die Decke weggezerrt, eine nackte Schönheit wurde von einem Schwan zwischen ihren Schenkeln überwältigt, vielleicht geschwängert, was immer dabei herauskam, eine andere von einem Stier über einen breiten Fluss getragen, offensichtlich gegen ihren Willen; eine reckte auf der Flucht vor einem gut gebauten Verfolger, so nackt wie sie selbst, die Arme gen Himmel und bestand bauchabwärts aus Lorbeerzweigen.
Meine Mutter hätte sich bekreuzigt.
Nicht nur deswegen fühlte ich mich hier wohl. Weder das Büßen noch die Hölle leuchteten mir ein; wozu hätte Christus so entsetzlich sterben müssen und alle Sünden der Menschheit auf sich nehmen, wenn die Sünden hinterdrein wieder jedem Einzelnen aufgerechnet wurden. Mir erschien das blödsinnig. Schlimm geprügelt hatte meine Mutter mich, und sie prügelte fast nie, da war ich keine drei, als ich in ihren Korb mit frischer Wäsche gepinkelt hatte. Die ganze Mühe umsonst, hatte sie geschrien, die ganze Mühe, wozu das alles!
Aretino bemerkte, dass ich auf die Gemälde glotzte, legte seinen Arm um meine Schultern und sagte, es gehe hier um Mythen, um Geschichten von Göttern und Menschen, die sich die Griechen schon vor zweitausend Jahren erzählt hätten, fürs Leben entschieden nützlicher als Heiligenlegenden.
Warum hatte mein Lehrer sie mir dann verschwiegen? Nur von Odysseus und Aeneas hatte er geschwafelt, dass diese Helden Feiglinge seien, verglichen mit den christlichen Märtyrern, und ihr Leben in keiner Weise vorbildlich; schon deswegen interessierten sie mich.
Die Hühnersuppe wurde eine Etage drüber serviert.
Dort war es heller. Drei hohe Fenstertüren mit Spitzbögen führten auf einen langen, aber schmalen Balkon hinaus. Aretino nahm mich mit ins Freie. Nach rechts schaute man hinaus auf den Fleischmarkt und den Fischmarkt, nach links zur Niederlassung der deutschen Kaufleute, ein Riesenbau, den die Venezianer auf eigene Kosten nach dem Brand vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren hatten neu errichten lassen. Sogar die Fassadenbemalung von Giorgione und Tizian haben sie finanziert, sagte Aretino, das war drin bei den Wahnsinns-Zöllen, die sie abkassieren.
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