In diesen Wochen lernte ich in meinem Umgang mit arbeitslosen Artisten eine Tänzerin kennen, die sich als Modell in der Kunstakademie einiges Geld verdiente und mit den jüngeren Kunstprofessoren auf vertrautem Fuße stand. Sie war in unserer Gesellschaft durch ihren rüden Umgangston mehr gefürchtet als gelitten. Ich hatte Margot zunächst kaum beachtet. Merkte aber dann, dass sie sich in besonderer Weise für mich zu interessieren begann, indem sie mich manchmal auf der Tanzfläche herumschubste, als wollte sie mich in die Ecke feuern. Warum gerade ich, der mit solcher Anteilnahme beehrt wurde … zudem war ich um die Zeit, wenn Margot in unserem Kreis auftauchte, schon meist stark angetrunken. Ich hatte ihr nichts zu bieten, und sie interessierte mich nicht im Geringsten, auch nicht, als sie mich eines Tages zwang, sie mit auf mein Zimmer zu nehmen.
Das ging so eine Weile, bis mich die Pensionswirtin, der die nächtlichen Besuche nicht verborgen bleiben konnten, eines Tages hinauswarf. Margot brachte mich in einem Hotel unter, wo sie gut genug aus früheren Besuchen bekannt war. Mich rettete vor dem neuen Bruch mit den Eltern, dass der Repetitor meine Zulassung zum Referendarexamen fertiggebracht hatte. Ich stieg bei all dem Trubel in die schriftlichen Vorprüfungen, von der brieflich mir übermittelten tiefsten Verachtung der Mutter begleitet.
Ich habe den vielen Erzählungen der Margot mit halbem Ohr nur zugehört. Da war eine Mutter, die sie, wenn die Not sehr dringend war, mit Geld unterstützte und sie auch manchmal in der Wohnung heimlich schlafen ließ. Da war der Stiefvater, der seinerseits sie aus dem Haus gewiesen hatte. Da war die Reihe der Freunde und Künstler und Liebhaber, die sie alle abgeschüttelt hatte und die sie beschimpfte, sobald sie ihrer ansichtig wurde. Da war der Kanonenkönig, der auf der Bühne eine Kanone über seine Brust rollen ließ und dem anscheinend ihre erste große Begeisterung gehört hatte, und der sie dann sitzen ließ. Da waren die verschiedenen Engagementsverhandlungen mit den oft recht undurchsichtigen Agenten, und da war schließlich der Vertrag mit einer Schau- und Tanzgruppe für eine Tournée durch Finnland, Russland und die Türkei … der Manager der aus vier Personen bestehenden Truppe saß vor einem Zelt in der Wüste und spielte als Haremsscheich die Flöte. Der Mond ging über der Szene auf, die drei Mädchen bewegten sich im Kreise und gingen jeweils einige Schritte vor und zurück – getanzt wurde da nicht viel.
Ich habe es kaum bemerkt, eines Tages war Margot auf Tournée verschwunden, abgereist, und wird mir Nachricht senden, dass ich ihr nachkommen soll.
Ich lernte inzwischen auf die mündliche Schlussprüfung im Referendarexamen und fing wieder an, Geld zu pumpen. Ich tat das, was die Agenten von mir verlangten: Ich kaufte Lexika und wissenschaftliche Bücher auf Kredit, auf Grund der Studentenkarte, bekam von den Agenten nur den Pfandschein zu Gesicht, den ich ihnen verkaufte, das heißt, ich erhielt etwa zehn Prozent des Wertes in bar, für den ich den Abzahlungsvertrag zu unterschreiben hatte. Ich unterschrieb auch allerhand Versicherungen, die dann der Agent belieh oder zurückkaufte, bis ich schließlich so viel Geld zusammen hatte, dass ich eine Fahrkarte nach St. Petersburg kaufen konnte. Von dort erhielt ich von Margot ein Telegramm, ich solle nachkommen, und zwar sofort.
Warum ich wirklich abgefahren bin, das weiß ich heute ebenso wenig wie in früheren Jahren, wenn ich gelegentlich darüber nachgedacht habe. Es lohnt sich nicht, darüber analytische Spekulationen anzukurbeln, denn sie stimmen ja doch niemals ganz. Man wird es mir nicht glauben, aber es war weder der brennende Wunsch, Margot wiederzusehen, noch die Flucht vor den Schulden oder das masochistisch-sadistische Vergnügen, im letzten Augenblick noch das Examen zu schmeißen, ebenso wenig reine Abenteuerlust … vielleicht, um es dem Leser leichter zu machen, war von jedem ein wenig dabei.
Ich kam nach einigen Tagen Bahnfahrt ziemlich durcheinander in St. Petersburg an. Margot, in Begleitung einer Kollegin, nahm mich am Bahnhof in Empfang. Ich hatte unterwegs überall und in jedem Reisenden im Zugabteil einen Spion der zaristischen Staatspolizei gesehen, der mich festnehmen wollte. Ich war noch so aufgeregt und durcheinander, dass ich im Fontanka-Kanal beim Aussteigen aus dem Verkehrsboot vom Laufsteg ins Wasser fiel, mit dem Koffer fest in der Hand.
In dem Artisten-Hotel, wo die Truppe logierte, wurde ich die Nacht über einquartiert. Am nächsten Morgen ließ mich der Dwornik nicht mehr in das Hotel hinein. Ich ging in das Etablissement Flora-Varieté, wo die Truppe im Programm war, und sprach dort mit einem der Direktoren, mit dem ich mich deutsch verständigen konnte. Eine Beschäftigung als Bühnenarbeiter, Kulissenschieber, irgendeine Tätigkeit im Betrieb, Restaurant, oder Logendiener, Tellerwäscher, Auskehrer oder was immer – wäre mir recht gewesen. Als der Mann aber hörte, dass ich der Freund oder Liebhaber eines der Mitglieder des Ensembles sei, der ihr von Breslau aus nachgereist und hier ohne Mittel gestrandet war, schmiss er mich sofort hinaus – das Flora-Varieté lebt von den Separee-Logen, in denen für die Kavaliere Sekt serviert wird, die dafür das Recht hatten, die auftretenden Tänzerinnen in die Logen zu beordern.
Einige Tage später setzte die Geschäftsleitung auch Margot vor die Tür. Die ganze Truppe wäre entlassen worden, wenn diese nicht Margot einfach geopfert hätte. Dafür sorgten die Kollegen für Margot, solange sie noch in St. Petersburg ohne Engagement war. Sie konnte im Hotel wohnen bleiben, die Kollegen brachten durch Umlage das notwendige Geld auf. Ich durfte mich dort allerdings nicht sehen lassen.
Ich schlief auf einer Bank im Park – ich schlief dort etwa drei bis vier Wochen, Nacht für Nacht. Der Park war nach Zarin Elisabeth benannt, und an einigen Nächten, an die ich mich besonders erinnere, war er von Tausenden von Lampions beleuchtet. Nie hat mich ein Wärter oder die Polizei weggejagt, wenngleich manchmal angestoßen, ob ich noch am Leben sei.
Es waren die Wochen der weißen Nächte. Der silberne Dämmer in diesen Nächten tat mir wohl. Margot sah ich in dieser Zeit jeweils nur für ein paar Stunden im Café Reiter, einem Artistentreffpunkt am Newski, wo mir die Kollegen Margots einen Kaffee bezahlten, oft auch etwas zu essen bestellten. Margot selbst steckte mir gelegentlich einen Rubel zu. Ich kaufte mir dafür große Klumpen von schwarzem Brot.
Trotzdem musste schließlich etwas geschehen. Die Freunde gaben mir eine Liste wohlhabender Deutscher in Petersburg, die ich der Reihe nach aufsuchte, um Geld für die Rückreise zu erbetteln. Ich hatte mir einen ziemlichen Spruch zurechtgemacht, bei dem das bevorstehende Examen die entscheidende Rolle spielte. Ich bekam nichts, nicht eine Kopeke. Ich wurde an das Deutsche Konsulat verwiesen, und dort schrieb mir ein Beamter, dem ich meinen Spruch hergesagt hatte, einen russisch geschriebenen Zettel aus mit einer Adresse – ich sollte diese Adresse unverzüglich aufsuchen. Glücklicherweise ging ich vorher ins Reiter, wo mir jemand den Zettel übersetzte – es war die Einweisung ins Arbeitshaus.
Dies brachte mich etwas ins Leben zurück. Ohne besonderen Rat und ohne weitere Hinweise ging ich zum Hafen in das Kontor der Stettiner Dampferkompanie, die wöchentlich einen Passagier- und Frachtdienst zwischen St. Petersburg und Stettin betrieb. Dieser Mann hatte sofort Verständnis. Er sagte, ich würde an Deck unter der Persenning schlafen und für die Küche arbeiten. Als er hörte, dass ich eine Frau mitbringen wollte, war der Mann sogar noch mehr geneigt. Auf diesen Schiffen, die vierzig bis fünfzig Passagiere mitnehmen können, ist für Frauen noch leichter Arbeit zu finden.
Ich hatte zwar den Mund zu voll genommen, denn ich brauchte eine ganze Zeit, Margot, die vielleicht lieber in St. Petersburg geblieben wäre, zu überreden mitzukommen. Schließlich fuhren wir los, und nach einer Fahrt von fünf Tagen, während der Margot meist krank war und nicht arbeiten konnte, landeten wir in Stettin.
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