1 ...7 8 9 11 12 13 ...28 Das änderte sich, als der Vater, der mich für das Klavier verloren hatte, auf den Ausweg verfallen war, im Hause Quartett-Abende zu veranstalten. Irgendwelche musikbeflissenen Leute aus der Stadt spielten Bratsche und Cello. Der Vater oder mein früherer Klavierlehrer spielten Klavier, und die beiden Geigenstimmen hatten der Militärmusiker und ich. Damals war ich schon sehr selbstbewusst geworden. Mit dem Part der ersten Geige und den brillierenden Solopartien kümmerte ich mich wenig darum, dass die Mutter kritisierte und mäkelte, ich stünde zu nahe am Pult, ich halte die Schulter schief oder lasse sie hängen – wahrscheinlich sollte ich dadurch veranlasst werden, Augengläser zu tragen; was auch durchaus angebracht gewesen wäre.
Ich war schon wieder auf dem Wege zum Virtuosen, zu Sarasate und Tartini und den Teufelstrillern. Wie es mit diesen Quartetten weitergegangen wäre, weiß ich heute nicht. Sicherlich wäre es zu einer Explosion gekommen, denn diese abendlichen Quartette, obwohl ich dabei behandelt wurde wie ein rohes Ei, nahmen einfach zu viel von meiner Zeit weg. Ich hätte zwar nicht direkt gewusst, was sonst zu tun – sie standen mir aber im Wege. In dem Jahr, als der Tod die große Unruhe in unser Haus brachte, hörten die Quartette von selbst auf; zugleich auch meine Violinstunden.
Seltsamerweise habe ich von diesen Quartetten, die sozusagen die ganze Skala klassischer Musikliteratur umfassten, und von den Violinkonzerten der Mozart, Beethoven, Bruch und Genossen nichts behalten. Ich strich sie mit einer zunehmenden Fertigkeit hin und her, von der Pizzicato-Kadenz bis zur Viola-Stimme auf der G-Saite; aber das war auch alles.
Heute sehe ich: Ich hasse diese klassische Musik, ich hasse Musik überhaupt. In dieser Gesellschaftsform ist so vieles ausschließlich auf Musik gestellt, der Tod und die Geburt, die Moral und der Versuch, dieser Moral Widerstand zu leisten – alles ist eingewickelt in Musik; die Prügel, die Wehlaute, alles, was schreit und nicht mehr aufstehen wird und selbst bis zuletzt die Hinrichtung, sei es im Marschtempo, in der Ballade oder den langgezogenen Wellentönen bei Wagner. Ein einfaches Geräusch ist mir lieber – solange nicht jemand kommt und es in Musik setzt; leider ist das zu oft der Fall.
Ich bin gezwungen, zuzuhören und stille zu sein. Ich bin schwach, zu schwach, gegen diesen von der Gesellschaft ausgehenden Druck etwas auszurichten. Für mich liegt der Betrug in der biologischen Fehlleistung, die als Musik bezeichnet wird, darin, dass sie als notwendig erkannt wird, die Leere, die Langeweile, den Überdruss auszufüllen und, wenn notwendig, innerhalb der Gesellschaft niederzuhalten, weil ohne dieses die Gesellschaft explodieren würde … Würde sie? Warum nicht?
Verwechseln Sie nicht Musik mit Rhythmus. Der Rhythmus steckt in den Knochen, im Blut, im Organismus, in der Lebenserwartung und in dem Zusammenbruch dieser Erwartung. Im Beinahe – möchte man sagen. Der Rhythmus ist das Leben selbst, sicherlich mehr als das physische Leben … wächst und weitet sich und zieht sich zusammen, konzentriert sich auf den Atem … ein und aus, tiefer ein und schneller aus.
Und weiter: Ja, ich habe mich auf die Aufnahmeprüfung in der Musikhochschule vorbereitet. Den Eltern hätte ich keine größere Freude bereiten können, als auf das Musikstudium umzuschwenken. Der Gerstenberg besorgte mir aus einer Leihbücherei Klavierauszüge. Ich hatte mit drei Spielopern zur Auswahl anzutreten, geeigneter Konzertmusik und einigen Schaustücken. Ich paukte auf dem Klavier in diesen April-Wochen 1907 in Leipzig von morgens bis abends – ich hatte in den letzten drei, vier Jahren keine Taste mehr angerührt, manchmal brachte mir der Freund etwas zu essen, manchmal aber hatte er auch selber nichts.
So ging ich schließlich in die Prüfung, spielte Teile von „Maurer und Schlosser“, ferner mächtig rauschenden Klingklang von Schumann und irgendeine Ecke von Brahms, die Umsetzung eines Themas in verschiedenen Schlüsseln und hatte noch ein Thema in die Form einer Fuge zu bringen – die beiden Prüfungen im Transponieren gingen so gerade schlecht und recht, in den ersten Übungen kam ich glatt durch. Immerhin wurde mir sogleich für das erste Semester ein Pflichtkurs bei Max Reger in Kontrapunkt auferlegt. Als Blasinstrument wählte ich die B-Klarinette, obwohl ich kaum eine Aussicht sah, mir das Instrument anzuschaffen, das jeder selbst mitzubringen hatte.
Den Eltern waren die veränderten Umstände noch nicht bekannt. Ich benutzte den Wechsel nur insoweit, als ich über den Bautzener Onkel Geld für einige zusätzliche Ausgaben anforderte, etwaige Kurse in der Musik-Hochschule betreffend, wovon ich die Immatrikulation an der Universität schließlich bezahlen konnte.
Inzwischen verkaufte ich meine sämtlichen wohlsortierten Kleidungsstücke, Wäsche, Schuhe und den Zylinderhut, den damals die Abiturienten am Tage des bestandenen Examens als eine Art Uniform zu tragen pflegten. Ich besaß gerade nur noch das Allernotwendigste, um auf die Straße gehen zu können.
Ich zog in eine Vorstadt um, hatte einen Fußweg von etwa einer Stunde zum Thomasring oder Augustusplatz im Zentrum der Stadt. Ich war völlig ohne Mittel und im Grunde auch ohne ernstliche Aussichten für das eine oder andere Studium. An der Universität konnte ich nur einige Freikurse belegen, Literatur bei Witkowski, Musikgeschichte bei Riemann.
Ich erwähne diese Einzelheiten, weil ich in Wirklichkeit sehr zufrieden und ausgeglichen in dieser Zeit gewesen bin. Ich habe diese innere Ausgeglichenheit trotz aller der damit verbundenen Mängel nie mehr wieder gefunden. Ich hatte kaum Freunde und nur einige Zufallsbekanntschaften. Es schien, dass ich imstande sein würde, alles, was ich in den Schuljahren an aufbauender Lebensenergie versäumt hatte, jetzt nachzuholen. Wenn es erlaubt ist, von einem jungen Menschen zu sagen: ich richtete mich wieder hoch, ich blühte auf.
Mit der Musikhochschule hatte es ein schnelles Ende. Es machte mir nichts, inzwischen innerlich viel sicherer geworden. Ich war nur einmal mit zirka vierzehn anderen Schülern im Reger-Kurs. Der Meister behandelte uns nicht nur wie Idioten, hergelaufene Strolche und noch nicht entwöhnte Müttersöhnchen, für die der Staat Geld zahlt, dass sie ihm, dem Meister, die Zeit stehlen – offensichtlich war Reger, was auch viele andere bestätigen werden, bei solchen Gelegenheiten stark unter Alkohol –, sondern er erklärte auch frei weg, dass er keinen von uns den Kurs passieren lassen werde – dies sähe er schon an unserem ganzen Auftreten. Er nahm die ersten drei vor mit einer Themenführung und sagte jedem Einzelnen schon nach wenigen Minuten, dass er sich nicht mehr mit ihm beschäftigen würde. Er habe zwar nicht das Recht, ihm zu verbieten, das Studio zu betreten, aber für ihn sei er künftighin Luft und von der Liste gestrichen. Ich wäre an einer der nächsten Stunden drangekommen und gab schon vorher auf. Im Augenblick erschien es mir sinnlos, dagegen anzukämpfen.
Auf diese Weise verkürzte Reger die Zahl seiner Pflichtstunden im Semester um mehr als die Hälfte. Ich war nicht einmal besonders enttäuscht. Die beiden Klavierkurse waren überflüssig geworden – ohne den Reger-Kurs wäre ich das Semester nicht weitergekommen.
Wenn folgenschwere Entscheidungen zu treffen sind, wählt derjenige, der völlig auf sich allein gestellt ist und niemanden hat, mit dem er darüber sprechen oder streiten kann, mit Sicherheit das Falsche. Er weiß es meist schon vorher, aber bestimmt gleich nachher, was er vielleicht noch hätte ändern können.
So war es auch bei mir, als ich mich entschlossen hatte, das juristische Studium wieder aufzunehmen, obwohl mir die Vorlesungen, die ich besuchte, nicht angerechnet wurden. Das wird später noch nachzuholen sein … ich saß mit ein paar Gleichaltrigen, die ebenso unentschieden waren wie ich, im Café Minerva am Thomasring. Wir diskutierten ohne Thema und ohne Ziel darauf los und in die Luft; nach all den Aufregungen der letzten Jahre ein wohltuendes Nichts. Und offensichtlich – ich war ruhiger, und ich schien reifer geworden zu sein. Geld hatten wir alle nicht und auch keine Lust zu besonderen Ausgaben. Einmal in der Woche ging ich in das Speiselokal „Zum weißen Hirsch“ zum Mittagessen. Ich habe lange Zeit die Löffel von dort aufbewahrt als Andenken, auf denen eingraviert war „Gestohlen im Weißen Hirsch“.
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