Orbáns Spiel mit der Geschichte
Traumatische historische Ereignisse und das politische Spiel mit ihnen können die Wurzel für neue Konflikte werden. Das weiß ein Politiker wie Viktor Orbán, der die Geschichte seines Landes massiv für nationale Aufwallungen einsetzt wie kein anderer in Europa. Das Lustschloss Grand Trianon, das Ludwig XIV. im Park von Versailles erbauen hatte lassen, werden viele Ungarn nie persönlich gesehen haben, aber sie wissen, dass dort nach dem Ersten Weltkrieg, am 4. Juni 1920, ein Vertrag unterzeichnet wurde, der aus dem Königreich Ungarn einen deutlich kleineren Staat machte. Mit diesen „Pariser Vorortverträgen“ wurde der Erste Weltkrieg in aller Form beendet, auch mit einer Unterschrift der ungarischen Regierung, die damit auf zwei Drittel der Fläche des einstigen Königreiches zugunsten der Nachbarstaaten verzichtete. Zuvor hatten Tschechen und Slowaken die tschechoslowakische Republik ausgerufen, Siebenbürgen war Rumänien zugeschlagen worden und in Zagreb hatte sich der Staat aus Serben, Kroaten und Slowenen gegründet. Für die Ungarn war es extrem schmerzvoll, dass sie auch Gebiete hergeben mussten, in denen sie die Mehrheitsbevölkerung stellten. 3 Millionen Ungarn lebten fortan außerhalb der neuen ungarischen Grenzen, wo noch rund 7,6 Millionen ihr Zuhause hatten.
Es gibt eine eigene „Trianon-Forschungsgruppe“, deren Leiter Balázs Ablonczy in der Budapester Zeitung die Bedeutung des Wortes Trianon in einem Interview sehr anschaulich erklärte: „In Ungarn gibt es über Trianon – wie bei anderen Ereignissen des 20. Jahrhunderts auch – mehrere Erinnerungen, die grundsätzlich sehr politisch geprägt sind. Man denkt darüber auf der linken Seite anders als auf der rechten, daneben gibt es auch eine liberale und eine rechtsradikale Auffassung, die meistens unversöhnbar miteinander sind. Oft habe ich das Gefühl, dass Trianon in Ungarn gar nicht der Name des Friedensvertrags ist, denn wenn jemand darüber redet, spricht er nicht über den Vertrag, sondern über all das Übel und Unglück, das uns widerfahren ist. Ein Beispiel: Ich kam gestern am Flughafen an und auf dem Nachhauseweg fragte mich der Taxifahrer, wo ich war und was ich gemacht habe. Ich sagte, dass ich auf einer Konferenz über die Friedensverträge in Paris war, woraufhin er sofort drauflosredete, aber nach drei Sätzen sprach er überhaupt nicht mehr von Trianon, sondern darüber, wie schwer das Leben heutzutage ist und ob es vor der Wende besser war oder nicht. Das meine ich, wenn ich sage, dass Trianon der Name einer Tragödie ist.“
So wird aus einem hundert Jahre zurückliegenden Ereignis eine Projektionsfläche für aktuelle persönliche Probleme. Das ist auch deshalb möglich, weil in der kommunistischen Zeit das Thema Trianon tabuisiert war. Im Ostblock mussten alle Staaten „sozialistische Bruderländer“ sein, da durfte Nationalismus keine Rolle spielen. Offiziell. Der Schmerz, den viele Ungarn spürten, auch weil ihnen die Behandlung der ungarischen Minderheit in anderen Staaten nicht gefiel, wurde verdrängt. Und kann heute umso massiver missbraucht werden.
Viktor Orbán spielt lustvoll mit dem Mythos Trianon und wird dabei auch kreativ. Am 4. Juni 2020 wurde in Budapest ein 100 Meter langes und vier Meter breites Denkmal fertig. Eine Art Rampe um rund 16 Millionen Euro soll ein „Denkmal der nationalen Einheit“ werden und die Menschen daran erinnern, wie groß Ungarn einmal war. Das Jahr 1913 wurde als Referenzpunkt gewählt, mehr als 12.500 Ortsnamen des Königreichs Ungarn wurden in die Rampe, die unter die Erde verläuft, eingemeißelt. Also auch viele Orte, die heute nicht mehr in Ungarn liegen und solche, die nie mehrheitlich von Ungarn besiedelt waren. Orbán spielt gerne das Opfer, da wird die EU-Zentrale auch zu „Brüssel, dem neuen Moskau“.
Die Europäische Gemeinschaft wurde gegründet, um den bis dahin üblichen Geschichtsrevisionismus durch den Abbau von Grenzen für immer zu beenden. Wenn es seit den Verträgen von Maastricht eine Europäische Staatsbürgerschaft gibt, dann muss ein Nationalstaat nicht mehr danach trachten, ehemalige Staatsbürger mit einem nationalen Dokument einzugemeinden. Genau das aber macht Orbán mit Angeboten für ungarische Pässe an Ungarn in Rumänien, der Slowakei und den Balkanländern. Genauso handelte die FPÖ, als sie mit der Idee spielte, Südtirolern die österreichische Staatsbürgerschaft anzubieten und diese Forderung sogar im türkis-blauen Regierungsprogramm von 2017 unterbrachte. Das sind rückwärtsgewandte Ideen, die bewusst Gräben aufreißen und den Nationalismus virulent machen sollen.
Osteuropa:
Rückfall in autoritäre Zeiten
In den Staaten des früheren Ostblocks schien es nach dem Fall der Mauer und der Beseitigung des Eisernen Vorhangs wirklich so, als würden dort Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte verankert werden sowie das Prinzip des Wohlfahrtsstaats, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg überall in Westeuropa entwickelt hatte. Immerhin hatten sich einige Völker ihre Freiheit gegen die lokalen kommunistischen Diktatoren, die mit den sowjetischen Panzern im Hintergrund herrschten, erkämpft, in einem zum Teil jahrzehntelangen Prozess.
Die Ungarn hatten sich schon 1956 gegen die sowjetischen Besatzer gewehrt, Tschechen und Slowaken 1968. Vergeblich. Im Jahr 1980 wurde der 37-jährige Elektriker Lech Wałęsa in Danzig Chef der neuen Gewerkschaftsbewegung Solidarność. Dort agierten endlich keine angeblichen Arbeiterführer mehr, die nur dem Staat und ihrer Ideologie dienen wollten, sondern echte Gewerkschafter, die für ihre Kolleginnen und Kollegen eintraten, auch mit Streiks. Das hatte Wałęsa schon zehn Jahre davor versucht und war deshalb verhaftet worden. Nun wurde er zum weltweiten Helden, den auch Kriegsrecht und Hausarrest nicht mundtot machen konnten. Neun Jahre später, im Sommer 1989, machte Wałęsa – in noch nicht wirklich freien Wahlen – den Christdemokraten Tadeusz Mazowiecki zum ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten seit dem Zweiten Weltkrieg.
Auch andere Völker, die seit dem Krieg von sowjetischen Panzern beherrscht waren, lehnten sich auf. Am 7. Oktober 1989 beobachte ich in Ost-Berlin die offiziellen Feiern zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR, der Deutschen Demokratischen Republik. Unweit des Alexanderplatzes war eine riesige Tribüne aufgebaut, von wo aus der damals 77-jährige Staatschef Erich Honecker gemeinsam mit den anderen überwiegend greisen Mitgliedern des Politbüros und dem vergleichsweise jugendlichen sowjetischen Parteichef Michail Gorbatschow die Militärparade beobachtete. Auf der ehemaligen Stalinallee, die seit Herbst 1961 Karl-Marx-Allee hieß, demonstrierten Panzer sowjetischer Bauart die Macht des Militärs im „Arbeiter- und Bauernstaat“, tausende Soldaten marschierten im Stechschritt nach dem Vorbild preußischer Exerzierregimenter an den kommunistischen Führern vorbei. Ich stand ganz vorne, nahe dem Alexanderplatz, von wo auch viele Ost-Berliner die Szene mitverfolgten. Da trat ein DDR-Bürger einen Schritt nach vorne, an einen abgesperrten Bereich heran. Ein Volkspolizist wies ihn rüde an, wieder auf den Gehsteig zurückzugehen. Der Mann sah den Uniformierten an und fragte: „Warum?“ Das war eine Revolution im Kleinen, der Polizist schaute verwundert und drehte sich um. Als ob er geahnt hätte, dass das Geschehen nur mehr der letzte Akt einer schlechten Show war, die verzweifelte Farce einer Führung, die nur mehr wenige Wochen existieren würde.
In diesem Herbst des Jahres 1989 veränderte sich ganz Europa. Östlich des Eisernen Vorhangs ganz radikal, im Westen zunächst unbemerkt. Mauer und Stacheldraht hatten auch dazu geführt, dass viele Menschen im Westen nur wenig über das Leben jenseits der Todesstreifen wussten. Am Balkan machten sich die ersten Vorboten nationaler Konflikte bemerkbar, die in blutige Kriege münden sollten. Und es ging alles sehr schnell: in Polen, Rumänien, Bulgarien, Ungarn, der ČSSR – die Tschechoslowakische Sozialistische Republik der Tschechen und Slowaken –, Estland, Lettland, Litauen.
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