„Sei kein Angsthase, Moidl! Bist du nur groß oder bist du auch mutig? Sag!“
Da seufzt Maria – und ohne ein weiteres Wort folgt sie der Schwester nach, die sich wuselnd wie ein Eichhörnchen in Bewegung setzt, den Feldweg entlang.
Im Tal also das Kaufhaus. Sie betreten es mit zögerlichen Schritten, und während Rosa über die Mutter zu plappern beginnt und damit Hanna Bacher, die dicke Verkäuferin mit den dünnen Strichlippen, in ein Gespräch verwickelt, geht Maria an das Fass mit den Salzgurken heran. Ein riesengroßer Schlund ist es. Ein Bauch, aus dem Maria mit ihren Händen vorsichtig zwei Gurken fischt.
Maria kann gut beobachten. Sie sieht aus den Augenwinkeln, wie geschickt Rosa Hanna Bacher ablenkt – und schiebt die triefenden Dinger tief in ihr Schürzentäschchen hinein. Aber: Langsam und bedacht ist sie dabei. Denn sie weiß: Jede ruckartige Bewegung zieht nur Aufmerksamkeit auf sich. Und die will Maria nicht. Auch sonst nicht. Weil sie doch eh so groß ist, da schauen die Leute ohnehin schon genug! In solchen Momenten hat Maria gelernt, sich unsichtbar zu machen – und das tut sie auch jetzt, um Rosa ihre Stärke zu beweisen.
„Danke also!“, sagt die Schwester da mit einem Mal laut, greift nach dem Apfelsaft, den sie von Hanna Bacher erstanden hat, und geht rasch auf Maria zu, um sie aus dem Laden zu schieben. Die krümmt sich im Verabschieden, macht sich so klein, wie es nur geht.
„Ich gäb’ euch ja gern einen Krapfen gratis mit“, seufzt Hanna Bacher, „aber so schnell schießen die Preußen nicht!“
„Die Preise heißt das doch!“, entgegnet Rosa altklug, die im Schulunterricht brav zugehört hat und immer wach ist wie ein Schwamm. Dass die Preußen nämlich ein Volk sind und mit dem Verkaufen nichts zu tun haben, so viel hat sie gelernt!
Anna Bacher aber ignoriert ihre Aussage. Von Bildung hat sie wenig Ahnung. Ihre Arbeit ist eine mit den Händen. Decken falten, Kuchen und Brot backen, dem Vieh die Wolle scheren. Das ist alles. Ihr Blick folgt den beiden Mädchen nach.
„Du wirst auch immer größer!“, ruft sie Maria hinterher.
Diese schaut sich nur kurz um und lächelt schief.
„Geschafft!“, meint Rosa, als sie wieder auf dem Feldweg sind, und drückt ein wenig gegen Marias Backe. „Du bist meine Heldin! Groß und stark wie unser Ahnherr!“
Ahnherr! Wieder fällt Maria auf, was die Schwester für Worte weiß – und das, obwohl sie doch jünger ist als sie! Sie nickt, doch mit einem Mal fällt ihr das Schlucken schwer. Auch später, als sie die Salzgurke essen sollte. Beide Gurken wird Rosa bekommen.
Als es zu dämmern beginnt, kriecht die Schuld noch tiefer in Maria hinein. Das Bauernhaus ist abends stets eine Schattenwelt, manchmal dumpf und friedlich, ja gemütlich, manchmal aber auch erschreckend. So auch an diesem Abend, nach Marias erstem Verbrechen. Zitternd starrt Maria aus dem Fenster und erwartet das Nachtmahl. Hinterm Haus nichts als rotverbrannte Ebene. Die Sonne ist ein Schlag ins Gesicht, das Gras säuselt, knistert und knackt unterm Gewicht des Windes.
Auch jetzt kann Maria nicht essen.
„Iss, du brauchst es!“, meint die Mutter, ihr noch einen zweiten Knödel auf den Teller schiebend.
Maria schüttelt den Kopf.
Theresia Faßnauer will ihr über die Schulter streichen, doch Maria zuckt zurück. Der Körper der Mutter erscheint ihr mit einem Mal zu weich, zu rund und perfekt, Maria kann ihn nicht ertragen. Sie selbst kommt sich unförmig und klobig vor. Egal wie viele Gurken sie auch stiehlt, denkt Maria mit einem Mal, nie wird sie dazugehören. Nie so sein wie Rosa oder Theresia.
„Ach, lass sie!“, meint der Vater gütig lächelnd.
In dem Moment will sie am liebsten sein wie der Vater Josef, der Rote, der da am Tisch sitzt und kaut. Anders ist er als die Frauen. Er plappert nicht, leiert keine Rosenkränze, er schweigt meistens, und wenn er etwas sagt, ist es ehrlich.
„Hast keinen Appetit?“, will Theresia besorgt wissen und befühlt Marias Stirn.
Maria schüttelt den Kopf. „Ich glaub, ich geh’ schlafen“, murmelt sie.
„Ist gut, Kind“, sagt Theresia ein wenig besorgt und drückt sie an sich.
Aber es fühlt sich nicht gut an. Der wogende Busen schnürt Maria den Atem ab. Macht ihre Schuld noch größer. Sie giert nach dem Vater. Dass sie sein will wie ein Mann, ein richtiger, starker Ahnherr, ein Kämpfer!, denkt Maria. So wartet sie auf Josefs Blick – doch der bleibt aus.
Schnell schläft Maria ein an diesem Abend. Doch mitten in der Nacht erwacht sie aus schrecklichen, brauenden Träumen. Kurz geht sie auf und ab, kauert sich auf den Flur, das lichtlose Knarren der Tür ist zu hören. Maria lauscht ein wenig und beginnt dann wieder einzunicken. Doch plötzlich schreckt sie erneut aus dem Schlaf hoch. Was ist das? Ein Donnern und Dröhnen ertönt, dass ihr ganz bang wird! Mit pochendem Herzen eilt Maria zurück in ihre Kammer, öffnet das Fenster und blickt hinaus. Da, ein Blitz! Er durchzuckt hell und drohend das Firmament. Gottes Hand greift als Leuchtader vom Himmel herab und wischt den Restschlaf aus ihrem Blick. Gott bestraft mich!, denkt Maria, und ihr wird das Herz schwer.
Regen sprüht sich aus, nasse Rinnsale entstehen auf dem Pflaster des Hofes, das vor ihr liegt. Da muss Maria aufstehen. Und sie hastet mit raschen Beinen zu dem heiligen Ort: der Kapelle. Der Regen klebt ihr das Haar an den Schläfen fest, aber das ist egal. Maria läuft und läuft, atmet schwer, immer wieder zucken die Blitze. Töt’ mich doch, Gott!, denkt das Riesenmädchen, während es zitternd vor der Kapelle zum Knien kommt. Schlammig ist das Gras, es drückt sich in ihre bloßen Füße hinein. Unter ihr schwappt und zischelt es.
„Verzeih mir, Maria“, flüstert sie. „Ich weiß schon, das soll man nicht tun. Und ich trag’ deinen Namen!“
Keine Antwort tönt von der Kapelle.
„Ab jetzt“, wispert Maria in den Regen hinein, „ab jetzt werd’ ich brav sein! Ehrlich!“
Und mit einem Mal ist eine Stille in ihr.
5. Große Pulte für große Mädchen
„Also, das wird nix!“, meint die Lehrerin Rosalie Magd, eine hagere Dame mit hochgebundenem Knödel, und schiebt ihre Brille auf der Nasenspitze zurecht. Es ist der erste Schultag nach den Sommerferien.
Maria weiß nicht, wo sie hinsehen soll. Sie ist inzwischen zehn Jahre alt, aber aussehen tut sie nicht so, das weiß sie. Maria blickt schuldbewusst auf ihre viel zu langen Glieder.
„Ich fürchte, mein Kind“, säuselt die Lehrerin, und das Wort Kind klingt wie fremd in ihrem Mund, „wir müssen dir eine eigene Schulbank aufstellen.“
Mit zitterndem Blick sieht Maria um sich, findet schließlich einen Anknüpfungspunkt: Rosa. Klein, selbstbewusst und gerade sitzt die Schwester da auf ihrer Bank und sieht Maria zuversichtlich an. Wie ein spitzer Pfeil wirkt Rosa.
„Große Helden brauchen große Bänke“, platzt sie heraus, die Schwester in Schutz nehmend.
„Dich hat keiner g’fragt, Rosa!“, entgegnet die Lehrerin.
Maria sieht deren Gesicht an, in dem welk ein Mund liegt. Der Mund der Lehrerin ist ein vertrocknetes Blatt, denkt sie. Aber sie nickt nur und nickt. Steht sofort brav auf, der Lehrerin zu helfen. Das Heben der Schulbank stellt für sie kein Problem dar.
Mit eingezogenen Schultern, Schildkröte spielend, hievt Maria das Holzpult, das eigentlich für große, also erwachsene Menschen wie die Lehrerin gedacht ist, in den Raum. Platziert sich möglichst weit hinten, sodass sie nicht noch mehr auffällt. Das freilich entgeht der Lehrerin nicht. Sie lüpft ein wenig ihren viel zu langen, kartoffelsackähnlichen Rock und meint mit greller Stimme: „Nicht so weit im Eck, Maria. Wir wollen schon, dass du zu uns gehörst, oder?“
Die Riesin blickt sich zweifelnd um, schaut wieder in Rosas Gesicht, sieht ihr zuverlässiges Nicken. „Ja!“, meint sie dann flach.
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