»Gute Nacht, Liv«, er schob sie raus in die kühle Nachtluft und winkte ein Taxi herbei.
Das machte sie jetzt richtig wütend. Warum sie sich nie in ihn verliebt hatte, lag doch auf der Hand: Er war eben langweilig. Was bitte war cool an einem Typen, der sich immer unter Kontrolle hatte? Der vom ersten Tag an seinen großen Traum geglaubt hatte: als Sozialarbeiter die Welt zu retten oder wenigstens ein kleines Stückchen besser zu machen. Inzwischen arbeitete er als Streetworker in einer Einrichtung für schwer erziehbare Jugendliche, nahm nie Drogen, trank selten einen über den Durst und machte täglich Sport.
»Du Spießer!« Sie wollte ihn aus der Reserve locken. Aus Verzweiflung. Und weil sie den ganzen Abend schon so eine große Wut in sich spürte, die mit ihm ja eigentlich nichts zu tun hatte. Ursprünglich hatten sie sich einfach nur treffen wollen, um an diesem besonderen Tag gemeinsam an Alex zu denken. Wie bereits im letzten und im vorletzten Jahr, als die Wunde noch ganz frisch gewesen war.
»Lieber Spießer als Junkie! Du solltest nach Hause gehen und deinen Rausch ausschlafen. Was denkst du, hätte Alex gesagt, wenn er dich so hätte sehen können?«
Das saß! Dabei sah er gerade gar nicht wütend, eher sehr traurig aus, während er sie in das Auto schob. Sie war doch keine seiner schwer erziehbaren Schützlinge, die er herumkommandieren konnte, wie er wollte. Eine Art Betreuer, der sie auf allen Wegen begleiten musste. Auch, wenn er es gut meinte, mochte sie so etwas gar nicht.
Konstantin schaute jetzt richtig enttäuscht. Liva wollte wieder was Nettes sagen. Sie war fies zu ihm gewesen, das tat ihr leid. Es ist diese Großstadt, die mich fertigmacht, wollte sie noch sagen. Quasi als Entschuldigung. Manchmal dachte sie, dass es für sie besser sei, nach Marburg zurückzugehen. In ihre Hood. Wo sie herkam. Wo ihre Familie war. Genauer: deren klägliche Überreste.
Konstantin schob sie in den Wagen und steckte der Taxifahrerin einen Schein zu. »Er wird nicht wiederkommen, Liva. Finde dich endlich damit ab«, sagte er noch, bevor er die Tür zuschlug. Dann war er schon außer Sichtweite. So deutlich hatte er noch nie gesagt, was er über Alex’ Verschwinden dachte. Auch er hatte ihn also für immer abgeschrieben?
Oder war er heute nur besonders schlecht drauf? Er war den ganzen Abend wieder so wortkarg gewesen. Ob er es irgendwann mal schaffen würde, sich ihr anzuvertrauen?
Liva glotzte durch die vernebelten Scheiben. Draußen war nur Dunkelheit.
»Wohin willste?« Die Taxifahrerin duzte sie einfach. Gut, sie war die Ältere. Vor allem aber war Liva schwächer, besoffener und augenscheinlich unglücklicher. Sie, die Frau am Steuer, war also die Überlegene. Ihr Blick ruhte im Rückspiegel auf dem neuen Fahrgast. Sie wartete auf eine Anweisung, bezahlt war ja schon.
»Ins Fortuna «, sagte Liva trotzig. »Kennen Sie die Adresse?«
Die Frau nickte. Natürlich. Jede Taxifahrerin in Köln kannte den Club.
Liva checkte ihr Handy, um zu schauen, wie spät es war. Mist, jetzt war auch noch der Akku leer.
»Es ist Viertel nach drei.« Die Rothaarige hinter dem Steuer hatte ihren Fahrgast offenbar gut im Blick.
Gut, dachte Liva. Um diese Uhrzeit ging es dort erst richtig los.
Erst mal war sie heilfroh, dass kein nackter Typ neben ihr lag. Alles schon passiert nach so einer Nacht, die aus dem Ruder gelaufen war. Als Nächstes ärgerte sie sich darüber, dass sie überhaupt wieder so versackt war, Konstantins Warnungen zum Trotz. Obwohl heute wieder dieses wichtige Reportage-Seminar stattfand, für das sie bis Ende nächster Woche ihre Abschlussarbeit anmelden musste. Tat sie das nicht, würde sie noch ein Semester dranhängen müssen. Was sie aber gerade am meisten nervte – und nur mit Mühe schaffte es Liva, sich in ihrem Bett aufzurichten – war dieses permanente Klingeln. Immer wieder, unablässig, hoch und schrill.
Mist, das war ja gar nicht in ihrem Kopf. Das musste das Telefon im Flur sein. Sie hatte diesen Ton so selten gehört, dass sie ihn zuerst gar nicht erkannte. Liva konnte sich nicht erinnern, dass überhaupt mal jemand auf ihrem Festnetz-Anschluss angerufen hatte. Ihre Freunde nutzten seit Jahren E-Mail, WhatsApp, Threema, Tellonym, Snapchat, SMS oder Insta. Wer – verflucht – besaß überhaupt diese antiquierte Festnetznummer? Die Telekom, okay. Ihr Vermieter, dieser alte Abzocker. Und ihre Mutter.
Mit einem Hechtsprung war sie im Flur und nahm umständlich den Hörer ab. »Ja?«
»Dr. Konrad Naumann, Universitäts-Klinikum Marburg. Sind Sie die Tochter?«
»Tochter?« Sie hörte, wie ihre eigene Stimme ganz seltsam hoch klang und fast kippte. Irgendwie hysterisch. Aufgescheucht. Nahezu verrückt. Was für einen Eindruck sie gerade hinterließ? Aber was Schlaueres fiel Liva gerade nicht ein. Es ging um ihre Mutter, das hatte sie kapiert. »Ist etwas mit meiner Mutter passiert? Geht es ihr gut?« Warum sagte man in solchen Momenten automatisch das, was nahezu unmöglich war? Würde ein Arzt anrufen, wenn alles in Butter war?
Der Mann am anderen Ende hustete, hörte gar nicht mehr auf. »Entschuldigung«, sagte er. »Ich habe mich gerade verschluckt.«
Liva wartete. Ihre Gedanken fuhren Karussell. Warum sprach er nicht weiter? Sie hatte ihre Mutter seit mehr als zwei Jahren nicht mehr besucht. Marburg war verbrannte Erde, Stadt ohne Bruder, Ort der Trauer. Klar. Ihre Mutter wollte sie nie ziehen lassen. Sie hatte Alex’ Stelle einnehmen sollen, den Platz des Erstgeborenen, des einzigen Sohnes. Wäre sie nicht weggezogen, wäre sie mit dieser Bürde vor die Hunde gegangen. Zurückgelassen hatte sie eine zerstörte Frau. Eine Mutter ohne Kinder.
Wie aus der Ferne hörte sie ihre eigene brüchige Stimme, panisch, voller Angst. »Was ist passiert?«
»Sie hat ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Es gab wohl heute Nacht im Haus Ihrer Mutter einen Einbruch. Offenbar hat sie den oder die Täter dabei überrascht. Jedenfalls wurde sie niedergeschlagen oder die Treppe hinuntergestoßen. In der Sache ermittelt die Polizei, die werden sich sicher noch mit Ihnen in Verbindung setzen.«
Die Marburger Polizei. Von der hatte Liva nun wirklich genug. Diese stundenlangen Gespräche nach Alex’ Verschwinden. Manchmal hatte sie sich wie bei einem Verhör gefühlt. Hatte die vielen unsensiblen Mutmaßungen über das Verschwinden eines 20-Jährigen über sich ergehen lassen müssen. Dabei Schuldgefühle entwickelt. Irgendwann war das nur noch durch das eine Ohr rein-, das andere wieder rausgegangen.
Liva bemerkte erst jetzt, dass der Arzt einfach weiterredete. »… Wir mussten sie in ein künstliches Koma versetzen, dass die Hirnschwellung zurückgeht.«
»Koma«, wiederholte Liva.
»Ja, der Zustand Ihrer Mutter ist sehr kritisch, Frau Lohrey.«
Liva hörte die Stimme des Arztes nur noch gedämpft. Ein Einbruch? Daheim? Was gab es dort schon zu holen – ihre Mutter hatte doch nie etwas von Wert besessen. Nicht mal eine Stereoanlage oder ein Computer befand sich in dem kleinen, windschiefen Häuschen an der Hohen Leuchte im Ortsteil Ockershausen, das ihre Vorfahren zu einer Zeit gebaut hatten, als der kleine Stadtteil noch gar nicht zu Marburg gehört hatte. Altes Fachwerk, von außen schön verputzt, innen marode.
Hatte der Arzt sie gerade etwas gefragt? »Wie bitte?«
»Können Sie schnellstmöglich nach Marburg kommen?« Pause. »Gibt es noch jemanden, den ich informieren muss? Einen Ehemann vielleicht?«
Liva zögerte und sagte dann: »Nein, gibt es nicht.« Sie notierte sich noch Station und Zimmernummer und den Namen des Arztes. Naumann.
»Ich bin schon unterwegs.« Dann legte sie auf. Es war jetzt kurz vor neun Uhr. Auch wenn sie sich sofort auf den Weg machte, würde sie erst weit nach Mittag in Marburg sein.
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