Die erste Oper, die ich mich erinnere gesehen zu haben, war die Zauberflöte unter der Leitung meines Vaters bei einer Generalprobe in Lausanne. Mit sieben oder acht Jahren beeindruckte mich das unglaublich: die Musik, die Dialoge, die Handlung, einfach alles. Ich spürte plötzlich, was Oper mit mir anzustellen in der Lage ist. Ich war so beeindruckt, dass ich spontan zu Hause die ganze Bühne aus Papier nachbaute.
Als mein Vater Chefdirigent in Basel war, nahm er mich dort zu einer Generalprobe von Der fliegende Holländer mit. Er brachte mich auf den obersten Rang, damit ich alles gut sehen konnte und niemanden störte. Als der Vorhang aufging, sah ich ein riesiges Schiff und einen großen Chor, was mich zunächst beeindruckte. Aber danach verstand ich die Handlung nicht und begann mich zu langweilen, denn mein Vater hatte mir zuvor nicht erzählt, worum es in dieser Oper geht. Ein großer Fehler, denn ich begann während der fast zweieinhalb Stunden im Foyer herumzulaufen, irgendwann landete ich auf der Bühne und in der letzten halben Stunde im Orchestergraben. Dort sah ich meinen Vater dirigieren, der mich kurz sehr erstaunt anschaute. Meine erste Wagner-Erfahrung war also nicht sehr erhellend, aber zumindest wusste ich von da an genau, wie ein Opernhaus von innen aussieht.
Mit neun Jahren fand ich dann zu Hause die Partitur und die Schallplatte von Das Rheingold , und da ich den Titel faszinierend fand, wurde ich neugierig. Es gab auch ein Buch mit Bildern von Ul de Rico, jenem Künstler, der die Illustrationen zum Film Die unendliche Geschichte gemacht hat, in dem er die Geschichte vom Ring des Nibelungen mit Fantasy-Bildern nacherzählte. Das animierte mich, mir Rheingold anzuhören, und ich war begeistert. Mein Vater nahm in dieser Zeit die Musik zum berühmten Parsifal -Film von Hans-Jürgen Syberberg auf, worauf er sehr stolz war. Er spielte in diesem Film auch die Rolle des Amfortas, und es beeindruckte mich, ihn im Kino zu sehen. Da ich die Playbacktechnik noch nicht kannte, war ich sehr überrascht, meinen Vater singen zu hören. Die Handlung von Parsifal verstand ich natürlich nicht und langweilte mich dementsprechend, vor allem, weil immer, wenn Freunde zu uns kamen, die Szenen meines Vaters vorgespielt wurden und ich sie immer wieder anschauen musste. Bald dachte ich: »Ich hasse Parsifal .«
Mit elf Jahren war ich zum ersten Mal in Amerika. Mein Vater dirigierte in Seattle die Walküre . Dieser dreiwöchige Aufenthalt war unser Sommerurlaub. Autobahnen, Hochhäuser, McDonald’s – all das war für mich ungewohnt, aber die Proben zu Walküre schlugen bei mir augenblicklich ein.
Den Beruf meines Vaters empfand ich als sehr spielerisch, schön und natürlich. Er hatte eine sehr gute Art, mit dem Orchester zu arbeiten, und gestaltete die Proben mit Humor und Intelligenz. Man merkte, dass er gern mit anderen Musik machte. Heute weiß ich, dass er mit seiner eher antiautoritären Art seiner Zeit weit voraus war.
In der Schule war ich nur »das Kind ohne Vater«. Die Schulkollegen wussten nichts von seiner Berühmtheit, denn als Chef des Orchestre de la Suisse Romande in Genf war er ja in der französischen Schweiz und die wurde in Zürich nicht wirklich zur Kenntnis genommen. Später wurde mir klar, dass die Lehrer oder mein Chorleiter natürlich sehr wohl wussten, wer er war.
Mein Vater war ein Lebemann mit allem, was dazugehört. Er lebte sein Leben und ließ es sich gut gehen. Doch bei der Arbeit war er sehr ernsthaft und diszipliniert. Mein Vater war eine typische »Schweizer Mischung«: Er erzählte mir, dass der Name Jordan angeblich mit den Kreuzzügen zu tun gehabt habe. Die Familie wanderte dann im Zuge der Gegenreformation in Spanien als Hugenotten, also als französische Protestanten, ins damals deutschsprachige Elsass aus. Bald darauf wurde Basel die neue Heimat. Mein Vater wurde in Luzern geboren und war somit Deutschschweizer, ebenso wie sein Vater. Meine Großmutter hingegen ist Französischschweizerin, in Fribourg geboren, wo mein Vater auch studierte. Deswegen verkörperte er beide Seiten: das Deutschschweizerische, Pragmatische, Rationale, aber vor allem auch das Westschweizerische, Französische und Entspannte. Da er auch beruflich viel Zeit in Lausanne, Genf und Frankreich zubrachte, war er eher frankophil, deshalb sind auch die Vornamen von meiner Schwester Pascale und mir französisch.
Während meiner Schulzeit entwickelte ich dann neben der Musik auch einen starken Bezug zur Literatur. Mein Schulweg zum Gymnasium führte am Schauspielhaus vorbei und die Fotos in den Schaukästen machten mich neugierig. Theater war etwas, das ich von zu Hause her kaum kannte: Es gibt zwar eine Bühne, auf der wie in der Oper Geschichten erzählt werden, aber es wird nicht gesungen. Das war neu für mich. Damals war eine gute Zeit des Zürcher Schauspielhauses. Achim Benning kam damals von Wien nach Zürich und brachte viele hervorragende Schauspieler mit. Die Klassiker, die wir in der Schule lasen, schaute ich mir dann mit meinen Schulkollegen im Schauspielhaus an. Vor allem liebte ich Tschechow. Ich war als Jugendlicher eher melancholisch, daher berührten mich die Figuren von Tschechow in ihrer Vielschichtigkeit. Heute gehe ich aus Zeitgründen viel zu wenig ins Theater bzw. meistens nur, um die Arbeit eines bestimmten Regisseurs zu sehen, der für ein Opernprojekt in Frage kommt. Auch tue ich mich schwer mit Inszenierungen, bei denen ich das Stück nicht mehr wiedererkenne. In der Oper bin ich das ja mittlerweile gewohnt, schließlich habe ich ja schon viele Versionen von den meisten Opern gesehen. Aber im Schauspiel werde ich Shakespeares Sommernachtstraum vielleicht nur zweimal in meinem Leben sehen und da würde ich es lieber doch so sehen, wie es vom Autor gedacht war. Trotzdem hatte ich später sowohl in Paris als auch in Wien wunderbare Theaterabende.
Ich mochte bereits als Kind und Jugendlicher ausschließlich klassische Musik, aber meine Schwester liebte auch das Musical. Ihr Initiationserlebnis war Evita in Zürich, als die Broadway-Kompanie im Opernhaus gastierte und sie im Kinderchor mitsang. Da wir zu Hause Englisch sprachen, konnte sie sich mit den New Yorker Sängern und Tänzern gut unterhalten. Dass übrigens unsere Mutter mit uns Englisch sprach, kommt von ihrer Familiengeschichte. Sie wurde ursprünglich in Aussig an der Elbe geboren, heute heißt diese Stadt Ústí nad Labem. Sie war also Sudetendeutsche und ihre Familie musste am Ende des Krieges das Land verlassen. Sie kamen als Flüchtlinge nach Wien, wo sie in der Vorderbrühl bei Mödling untergebracht wurden. Obwohl sie buchstäblich nichts hatten, erlebte meine Mutter dort wahrscheinlich ihre glücklichsten Kindheitsjahre. Angesichts der Flüchtlingssituation heute erinnerte sie uns immer daran: »Auch wir waren Flüchtlinge.«
Ihr Vater, Friedrich Herkner, hatte an der Kunstakademie in Wien Bildhauerei studiert und kam im Rahmen eines Austauschprogramms zwischen Österreich, Nazideutschland und Irland 1938 als Professor für Bildhauerei an das College of Art in Dublin. Dann wurde er eingezogen und kämpfte im Russlandfeldzug. Es gibt viele in Russland gemalte Bilder von ihm. Da es nach dem Krieg keine Arbeit gab, kehrte er, wie mir meine Mutter erzählte, als Professor nach Dublin zurück. Bald darauf wanderte die ganze Familie nach Irland aus und nahm die irische Staatsbürgerschaft an. Meine Mutter ging in Irland in die Schule, verbrachte dort ihre späteren Kindheitsund Jugendjahre und studierte Tanz. Deswegen habe auch ich einen irischen Pass und meine Mutter sprach mit uns zu Hause immer Englisch, denn sie wollte, dass wir Kinder zweisprachig aufwachsen. Meine Eltern sprachen Hochdeutsch miteinander; niemand von uns sprach Schweizerdeutsch.
Von meiner Mutter habe ich auch ganz sicher die Disziplin. Da mein Vater kaum da war, musste sie alles alleine schaffen. Er hatte damals noch nicht die großen Gagen, man musste also auch sehen, wie man zurechtkam.
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