Wenn Philippe Jordan in der Saison 2020/21 sein Amt als Musikdirektor der Wiener Staatsoper antritt, hat er bereits viele Jahre Erfahrung in führenden Positionen hinter sich und bis zu siebzig verschiedene Opern dirigiert. Konsequente Arbeit an Klang und Stil war ihm immer wichtig, ebenso wie die geistige Durchdringung eines Werkes gemeinsam mit den Ausführenden. Was davon ist erlernbar, wie entsteht eine Klangvorstellung im Kopf, wie vermittelt er das, was ist die Rolle des Publikums, wie entsteht Klarheit oder Farbenreichtum, warum muss jedes Stück immer wieder neu gedacht werden? – Fragen, die jeden Konzert- oder Opernbesucher beschäftigen, und die Philippe Jordan hier betrachten will.
Als der Künstler in einer für Schulklassen geöffneten Probe im Wiener Musikvereinssaal ein paar Takte eines Werkes immer wieder spielen ließ und an allen Details arbeitete, hörte man die Kinder murren. Der Dirigent drehte sich um und sagte lächelnd: »Ich bin nicht gemein, nur genau!« Wie aus diesem Handwerk und dieser Arbeit Musizierfreude entsteht, wie er es erreicht, die Musik sprechen zu lassen, auch davon handelt dieses Buch.
Ein wesentliches Thema für Philippe Jordan ist immer wieder die Stille, der Raum, aus dem die Musik kommt. Fragen rund um den Zusammenhang zwischen Klängen, den Schwingungen der Stille und bewusst erlebter Gegenwart beschäftigen ihn schon seit seiner Jugend, Philosophie und Spiritualität sind ein wichtiger Grundton seines Lebens.
Der Blick in eine andere Dimension
Musik erinnert uns daran, dass es etwas gibt, das man mit dem Verstand nicht begreifen und auch nicht erklären kann. Etwas, das wir nicht greifen, nicht sehen können. Man kann Musik zwar analysieren, sie beschreiben, sie folgt auch bestimmten Regeln, aber in ihrem Wesen ist sie etwas Immaterielles. Musik wird physisch auf Instrumenten oder mit Stimmbändern hergestellt, vielleicht auf Papier notiert, trotzdem bringen uns die Frequenzen, die dabei übertragen werden, auf eine andere Schwingungsebene und verbinden uns mit einer anderen Dimension. Ich möchte Menschen den Blick in diese Dimension ermöglichen, sei es durch ein rauschhaftes Erleben oder durch die Einkehr in Stille. Musik ist in der Lage, uns den Klang der Stille und die Intensität des Augenblicks bewusst zu machen. Die Energie und die Emotion, die Musik in mir auslöst, möchte ich weitergeben. Wenn ich Musik mache, fühle ich mich am stärksten bei mir. Ich habe das Bedürfnis, mich durch Musik auszudrücken, mich durch Musik mitzuteilen. Mit Musik bin ich am authentischsten, mehr als mit Sprache oder anderen Mitteln der Kommunikation. Alles, was Musik mit mir macht, möchte ich mit Kammermusikpartnern, mit einem Orchester und natürlich mit dem Publikum teilen. Musik führt unterschiedliche Menschen, verschiedene Persönlichkeiten aus allen Kulturen zusammen, weil sie sich gemeinsam auf etwas einlassen wollen. Gemeinsam singen, gemeinsam spielen, gemeinsam tanzen – das alles verbindet Menschen. Diese Synchronisation ist intensive emotionale Kommunikation. Das Publikum ist ein ganz wichtiger Teil davon, denn die Aufmerksamkeit eines Publikums in einem stillen Saal zu erleben, ist eine Voraussetzung dafür, dass wir Musik machen können. Ich saß einmal in Bayreuth bei der Liebesszene von Tristan und Isolde hinter der Bühne, hörte diese unglaubliche Musik fantastisch gesungen, dirigiert und musiziert. Da verstand ich plötzlich, dass die Musik auch deshalb besonders spannend war, weil die Aufmerksamkeit drum herum so groß war. Die Stille des Publikums, die Konzentration aller Mitwirkenden, der Raum an Bewusstsein, der dabei entsteht, sind das eigentlich Spannende, das Magische. Wagner oder Mozart schaffen die Musik, um diesen Raum, diese Stille erlebbar zu machen. Auch wenn die Musik sehr laut ist, hat man 2000 Menschen in einem Saal, die durch ihre Stille und Aufmerksamkeit für ein Konzert oder eine Opernaufführung zu wichtigen Mitspielern werden.
Jeder im Publikum nimmt etwas anderes wahr. Man erlebt sich dabei in einem Spiegel, hat die Möglichkeit, bewegt zu werden und darüber nachzudenken, was die Musik in einem auslöst. Menschen kommen dabei in verschiedene emotionale Zustände, in andere Dimensionen, um letztendlich näher zu sich zu kommen. Dabei wird man mit den schönen – aber auch den weniger schönen – Seiten in sich konfrontiert. Wenn ich zum Beispiel Musik von Johann Sebastian Bach höre, sortieren sich meine Gedanken und Gefühle, der Körper ist still und die verschiedensten Parameter können sich verknüpfen.
Jeder, der selbst Musik macht, weiß, dass dabei die emotionale Intelligenz gefördert wird. Deshalb halte ich es für eine Katastrophe, dass der Musikunterricht in den Schulen zunehmend verschwindet. Er wird als musisches Fach abgetan, in dem man ein wenig Spaß haben soll oder Fingerfertigkeit übt. Für die linke Gehirnhälfte, für das rationale Denken, haben wir Mathematik, Physik, Biologie und vieles andere. Auch den Sport halte ich in der Schule für wichtig. Obwohl ich selbst als Kind den Sport hasste, denke ich, dass sich Kinder körperlich ausdrücken müssen. Was im Unterricht jedoch vernachlässigt wird, ist die Kunst, vor allem die Musik, denn man muss denken können, rechnen, lesen und schreiben können, man muss analysieren können, aber man muss auch fühlen und mitfühlen können, aufeinander hören und auf den anderen zugehen können, auch sich öffnen können, um sich auszudrücken. Die Gesellschaft verkümmert, wenn sie darauf keinen Wert mehr legt.
Wenn ich die Musik nicht hätte, wäre ich vielleicht nicht verloren, aber ich hätte keinen Boden unter den Füßen und müsste sehr mühsam andere Wege gehen, um meinen Platz zu finden. Ein Leben ohne Musik kann ich mir nicht vorstellen.
Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen ist mein Gefühl der Entthronung mit zweieinhalb Jahren durch die Geburt meiner Schwester. Meine Eltern hatten mich nicht gerade ideal darauf vorbereitet. Plötzlich war ich nicht mehr der Einzige – was damals ein einschneidendes Erlebnis für mich war. Ab diesem Zeitpunkt wurde ich schwierig, wollte Aufmerksamkeit, tat die unmöglichsten Dinge, um mich bemerkbar zu machen und hielt die Stille, die später eine elementare Kraftquelle für mich wurde, zu Hause nicht aus. Ich war ein neugieriges, lebhaftes Kind mit einem starken Willen – aber sicher kein einfaches Kind. Trotzdem hatte ich immer ein sehr gutes Verhältnis zu meiner Schwester und wir mögen uns sehr. Mit ungefähr sechs Jahren entdeckte ich die Musik für mich. Ich begann Klavier zu spielen und sah an der Reaktion meiner Eltern, dass sie Freude daran hatten, dass ich etwas »Sinnvolles« tat. Ich merkte, dass Musik ein gutes Ventil war, um die Zustimmung, Anerkennung und Liebe zu bekommen, die ich dringend gebraucht hatte. Mein Vater war selten zu Hause, was auch für meine Mutter nicht leicht war; ich musste funktionieren, irgendwie alleine zurechtkommen. Wenn mein Vater zu Hause war, empfanden wir das wie ein Fest. Ich erinnere mich gut daran, wie schwer es für mich und natürlich auch für meine Schwester war, wenn er wieder wegfuhr. Ich glaube, von ganz klein auf habe ich immer meinen Vater gesucht. Ziemlich sicher war das der erste Impuls für meine intensive Beschäftigung mit Musik. Wenn ich ihn in den Ferien besuchte, sah ich, wie er mit Orchestern arbeitete, Opern und Konzerte dirigierte. Als ich noch kleiner war, gingen wir in Zürich am Sonntag in die Kantine des alten Opernhauses, wo mein Vater Kollegen von früher traf. Er war in den Sechzigerjahren dort Kapellmeister gewesen. Ich kann mich gut daran erinnern, wie er mir den Orchestergraben zeigte und die Bühne, was mich natürlich faszinierte. Meine Mutter war Tänzerin an diesem Opernhaus gewesen und meine Eltern hatten sich dort auch kennengelernt. Manchmal ging auch sie mit mir ehemalige Kolleginnen oder Maskenbildnerinnen besuchen. Die ganze Theaterwelt mit Perücken, Masken und Kostümen fand ich faszinierend. Auch ins Balletttraining, das sie bis zum heutigen Tag macht, nahm sie mich oft mit. Ich saß dann neben der Pianistin und durfte ihr umblättern.
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