Ryczywolski hingegen teilte meine Freude über den baldigen Aufbruch nicht. Unruhig war er, verschwand immer wieder, und an den Abenden sagte er mir, er gehe zur Linde, um zu reden und eigene Untersuchungen anzustellen. Ich hätte mir mein Teil dazu denken können, doch war ich zu überwältigt von der Aussicht auf die bevorstehende Abreise, um weitere Gedanken daran zu verschwenden.
Der Vollmond fiel in die ersten Septembertage, und bei jedem Vollmond schlafe ich schlecht. So groß und leuchtend stieg er über den Wäldern und Sümpfen empor, dass man ein Schaudern empfinden wollte. Den ganzen Tag über war ich beschäftigt gewesen, hatte meine Herbarien für die Reise verpackt, rechtschaffen müde war ich, doch fand ich keinen Schlaf, wälzte mich hin und her. Mir schien, als hörte ich ein Flüstern im Haus, das Tapsen kleiner Füße, ein Schlurren und Schleifen, das Knarren einer Türangel. Ich hielt es für Nachtgespinste, doch sollte sich am Morgen zeigen, dass es keine Einbildung gewesen war. Alle Kinder und alle jungen Leute aus dem Gutshaus waren verschwunden, auch die Kinder des Kämmerers, vier Mädchen und ein Junge – vierunddreißig Seelen zusammen, die gesamte Jugend von Hajdamowicze. Nur die Säuglinge, die noch an der Brust lagen, waren verblieben.
Auch mein junger, hübscher Ryczywolski war verschwunden, den ich schon an meiner Seite am französischen Hofe wähnte.
Wie ein Gottesgericht war es über Hajdamowicze hereingebrochen. Die Wehklage der Frauen erhob sich in den Himmel. Rasch verwarf man den Gedanken, die Tataren könnten dahinterstecken. Sie verschleppten, wie jeder wusste, auch Kinder – doch viel zu leise war es vor sich gegangen. So wollte man schließlich annehmen, dunkle Mächte seien im Spiel gewesen, und die Männer wetzten und schliffen, was zur Hand war, Säbel, Sensen, Sicheln, und zogen, nachdem sie sich mehrfach bekreuzigt hatten, in geschlossenem Trupp um die Mittagszeit aus, die Verschwundenen zu suchen. Vergeblich – sie fanden nichts. Gegen Abend erst entdeckten einige Knechte die sterblichen Überreste eines Kindes, hoch in einem Baum. Ein schreckliches Geschrei erhob sich, denn alle erkannten an dem Totenhemd, dass es der Leichnam des Jungen war. Vielmehr – was die Vögel von ihm übrig gelassen hatten.
Alles junge Leben war aus Hajdamowicze entschwunden, die Zukunft war dahin.
Wie eine Mauer stand der Wald. Als wäre er das Heer des mächtigsten Königreichs auf Erden, dessen Herolde eben zum Abzug bliesen. Wohin? In den äußersten Weltenkreis inmitten der Grenzenlosigkeit, jenseits des flimmernden Laubs, jenseits der leuchtenden Tupfen, in die Gefilde der ewigen Schatten.
Drei Tage wollte ich noch warten. Dann schrieb ich eine Botschaft für Ryczywolski: »Solltest Du zurückkehren – wo immer ich dann weilen werde, komm!«
Am vierten Tag begriffen wir alle, dass wir die jungen Menschen nicht mehr sehen würden, in die Mondwelt waren sie entschwunden.
Als die königliche Kutsche sich auf den Weg machte, brach ich in Tränen aus, doch nicht meines Beines wegen, das mich noch immer plagte; was mich erschütterte, reichte tiefer. Und ich verließ den letzten Kreis der Welt, seine von Feuchtigkeit gedunsenen Randbezirke, seinen nirgends verzeichneten Schmerz, seine im Unsteten schwimmenden Horizonte, hinter denen sich das Große Nichts erstreckt. Und ich bewegte mich wieder auf das Zentrum zu, jene Sphäre, in der alles auf Zuruf seinen Sinn erhält, zu einem schlüssigen Ganzen sich fügt.
Hiermit halte ich also fest, was ich gesehen habe in jenem Grenzland der Ferne, notiere meine Erlebnisse, im lauteren Bestreben, nichts auszulassen, nichts hinzuzudichten, in der Hoffnung, dass der Leser mir zu begreifen helfe, was sich dort zugetragen hat und was ich selbst mit Mühe nur erfassen kann, prägen uns doch die Ränder der Welt für immer eine rätselhafte Ohnmacht auf.
Er richtete ihr ein würdiges Begräbnis aus. All ihre Freundinnen kamen, plumpe ältere Damen in Wollbaskenmützen und Wintermänteln, die den Geruch von Naphthalin verströmten, und aus den Nutria-Kragen ragten ihre Köpfe wie große, bleiche Geschwulste.
Taktvoll begannen sie zu schluchzen, als der Sarg an den regennassen Seilen in die Tiefe glitt, und dann bewegten sie sich, in eng gedrängten Grüppchen, unter den Kuppeln aufgespannter Knirpse mit kuriosen Mustern, auf verschiedene Bushaltestellen zu.
Am selben Abend noch öffnete er das Klappfach in der Schrankwand, in dem ihre Papiere lagen, und suchte … ja, er wusste selbst nicht was. Geld, Aktien, Obligationen – eine dieser Policen für den ruhigen Lebensabend, die im Fernsehen immer mit herbstlichen Szenen beworben wurden, in denen bunte Blätter rieselten.
Sparbücher aus den sechziger- und siebziger Jahren fand er, das Parteibuch seines Vaters, der 1981 glücklich verstorben war, in der festen Überzeug, der Kommunismus sei eine metaphysische Ordnung, die ewig Bestand haben werde.
Seine Zeichnungen aus dem Kindergarten, säuberlich zusammengelegt in einer Pappklappmappe mit Gummizug. Diese Mappe rührte ihn. Dass sie seine Kinderzeichnungen aufheben würde, hätte er nie gedacht. Und schließlich ihre Hefte mit den Rezepten für sauer Eingemachtes, Mariniertes und Konfitüren. Jedes Rezept begann auf einer eigenen Seite, die Überschriften waren mit dezenten Schnörkeln versehen – Ausdruck eines Bedürfnisses nach Küchenästhetik. »Pickles mit Senfkörnern«, »Marinierter Kürbis à la Kordelia«, »Avignon-Salat«, »Steinpilze kreolische Art«. Auch kleine Extravaganzen waren dabei: »Gelee aus Apfelschalen«, »Kalmus in Zucker«.
Die Hefte brachten ihn auf den Gedanken, in den Keller zu gehen. Seit Jahren war er nicht mehr dort unten gewesen. Seine Mutter hingegen hatte sich gerne im Keller aufgehalten, was ihn auch nie weiter verwundert hatte. Wenn sie sich wieder einmal beschwerte, dass er sich ein Fußballspiel in dröhnender Lautstärke ansah, und ihr immer kläglicheres Klagen keine Wirkung zeigte, hörte er den Schlüsselbund klirren, die Wohnungstür schlug zu, und seine Mutter blieb verschwunden für eine selig lange Zeit. Dann konnte er sich ungestört seiner Lieblingsbeschäftigung hingeben – eine Bierdose nach der anderen leeren und den zwei Gruppen von Männern zusehen, die in ihren bunten Trikots von einer Spielfeldhälfte in die andere einem Ball hinterherrannten.
Der Keller war säuberlich aufgeräumt. Ein kleiner, abgewetzter Läufer – ach je, Erinnerung aus Kindertagen –, ein Sessel, mit Plüschstoff bezogen, eine akkurat gefaltete Häkeldecke lag darauf. Eine Stehlampe mit Tischchen, ein paar restlos zerlesene Bücher. Einen geradezu verlockenden Eindruck aber machten die Regale: Dicht an dicht standen die schimmernden Gläser mit dem Eingemachten. Alle waren mit selbstklebenden Etiketten versehen, hier wiederholten sich, wie er erkannte, die Überschriften aus den Rezeptheften: »Cornichons in Pani Stasias Marinade, 1999«, »Paprikahäppchen, 2003«, »Pani Zosias Schmalz«. Einige der Bezeichnungen klangen geheimnisvoll: »Appertisierte Spargelbohnen« – er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, was »appertisiert« bedeutete. Der Anblick der klein geschnittenen, blässlichen Pilze, der vielfarbigen Gemüsemischungen, der blutroten Minipaprikaschoten weckte seine Lebensgeister. Flüchtig tastete er die Reihen der Gläser ab – keine Wertpapiere, kein Geld. Es sah wahrhaftig so aus, als hätte sie ihm rein gar nichts hinterlassen.
Er nahm ihr Zimmer in Beschlag, verstreute dort seine getragenen Klamotten, stapelte die Papppaletten mit dem Dosenbier. Von Zeit zu Zeit holte er sich aus dem Keller einen Karton mit Eingemachtem, öffnete der Reihe nach die Deckel, fischte mit einer Gabel den Inhalt heraus. Sein Bier mit Erdnüssen oder Salzstangen schmeckte köstlich in Verbindung mit marinierter Paprika oder zarten Babygürkchen. Er saß vor dem Fernseher, gab sich der Betrachtung seiner neuen Lebenslage hin – der just erlangten Freiheit. Ihm war, als hätte er eben das Abitur bestanden und alle Möglichkeiten lägen offen. Als sollte nun ein neues, ein besseres Leben beginnen. Er war nicht mehr der Jüngste, letztes Jahr hatte er die fünfzig überschritten, jetzt aber fühlte er sich jung, ja – er fühlte sich wie ein Abiturient.
Читать дальше