Ich erinnere mich noch an die letzten Jahre und Monate des Zweiten Weltkriegs. Wir wussten sehr oft nicht, ob, wie und wo wir am anderen Morgen aufwachen. Doch es war kein allgemeiner Stillstand; das Leben ging, wenngleich oft unter erheblichen Schwierigkeiten, weiter. Viele Kirchen waren zerstört, doch in denen, welche noch nutzbar waren, fanden Gottesdienste statt. Dass jetzt selbst an Ostern, dem Hochfest der Christenheit, auch in Rom kein gemeinsamer öffentlicher Gottesdienst stattfand, das ist in bald 2000 Jahren Kirchengeschichte nie vorgekommen.
Nichts hat uns diese allgemeine und geschichtlich einmalige Situation so deutlich vor Augen geführt wie der Segen urbi et orbi des Papstes vor dem mittelalterlichen Pestkreuz aus der Kirche San Marcello al Corso in Rom. Es wurde im Pest-Jahr 1522 unter großer Beteiligung in einer Prozession durch Rom getragen; jetzt steht der Papst auf dem fast gespenstisch menschenleeren Petersplatz allein vor diesem Kreuz und redet, auch wenn er über die Medien weltweite Aufmerksamkeit findet, wie ins Leere hinein. Kein öffentlicher Gottesdienst an Ostern, in Ost und West das zentrale Hochfest der Christen, für die Juden seit weit mehr als zwei Jahrtausenden keine Pessach-Feier mit Tisch-Gemeinschaften über die Familie hinaus und gemeinsamem Gebet in der Synagoge und für die Muslime kein Fastenmonat des Ramadan mit gemeinsamen Gebeten in Moscheen und mit dem abschließenden gemeinsamen Fest des Fastenbrechens. Das hat es so noch nie gegeben.
Der Ursprung des Virus ist nicht voll geklärt. Liegt eine menschliche Unvorsichtigkeit, ein Laborunfall vor, oder handelt es sich eher um eine Naturkatastrophe wie ein Erdbeben, ein Vulkanausbruch, ein Tornado oder Tsunami? Dass solche verheerenden Naturkatastrophen in bestimmten geologischen Zonen immer wieder möglich sind ebenso wie Epidemien, an denen jährlich viele Tausende Menschen sterben, das alles weiß und wusste man. Nun aber handelt es sich um einen bisher nicht bekannten, sich rasch weltweit verbreitenden Virus, für den auch unsere hochentwickelte Medizin bis auf Weiteres kein Heilmittel zur Verfügung hat. Das macht die Verwundbarkeit und die Zerbrechlichkeit des Menschen, seine Grenzen und auch seine Ohnmacht gegenüber den Gewalten der Natur neu deutlich und stellt den Machbarkeits- und den Fortschrittsglauben erneut infrage. Es ist eine Kontingenzerfahrung neuer, eigener, ja extremer Art.
Gerechterweise muss man hinzuzufügen: Es gibt auch positive und erfreuliche Kontingenzerfahrungen. Die große Mehrheit der Menschen reagierte mit viel gesundem Menschenverstand, oft mit erstaunlicher Kreativität und sehr oft mit bewundernswerter Solidarität. Es gibt zahllose Berichte von selbstlosem bis an die Grenzen und oft darüber hinausgehendem Einsatz von Pflegekräften, Ärzten, Seelsorgern, von freiwilligem Einsatz Jugendlicher für alte Menschen, nachbarschaftlicher Hilfsbereitschaft, Umorganisation des Zusammenlebens in den Familien oft auf sehr engem Raum mit all dem Stress, den das mit sich bringen kann. Die Menschen leben außer dem engen Kreis der Familie räumlich distanzierter voneinander und wissen sich doch mehr als bisher schicksalhaft solidarisch miteinander verbunden.
Wie realistischerweise nicht anders zu erwarten, gab und gibt es auch Beispiele von rücksichtslosem, raffiniertem kriminellem Ausnützen der Krise. Das Erstaunliche aber ist, dass insgesamt innere Kraftressourcen und menschliche Größe, die Fähigkeit, über sich selbst hinauszuwachsen, offenbar werden, welche verallgemeinernde negative Urteile über die heutige Welt und die heutige Jugend Lügen strafen. Die Erfahrung, dass in den Menschen mehr steckt, als wir oft meinen, gibt Anlass zu der Hoffnung, die wir dringend brauchen. Denn auch wenn die begründete Erwartung besteht, dass in einiger Zeit ein Medikament zur Verfügung stehen wird, wird es nach der Krise nicht so sein, wie es vor der Krise war. Schon heute müssen wir fragen: Wie werden wir die Nach-Corona-Krise schultern?
Man muss kein Schwarzseher sein, wenn man ernsthaften Prognosen Glauben schenkt, welche langfristige schwerwiegende ökonomische und damit auch soziale und politische Auswirkungen vorhersagen. Wir alle werden ärmer sein, die einen mehr und andere weniger, was wiederum soziale Verwerfungen, politische Konflikte und besonders in Europa internationale Neuordnungen zur Folge haben wird.
Die Folgen der Corona-Krise sind am ehesten wohl denen des verheerenden Erdbebens von Lissabon im Jahr 1755 vergleichbar. Noch nach mehr als 250 Jahren weiß man nicht genau, was diese Naturkatastrophe ausgelöst hat. Doch man weiß, dass das verheerende Beben die ganze damalige Kultur und aufgeklärte Philosophie zutiefst erschüttert und verändert hat. Das Beben bedeutete das Ende des Optimismus und des Fortschrittsglaubens der Aufklärung. Eine ganze Epoche europäischer Geschichte ging damals zu Ende.
Auch die Corona-Krise wird Erschütterungen unserer zivilisatorischen, gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Gewissheiten zur Folge haben, Folgen, die heute noch kaum jemand im Einzelnen absehen kann. Medizinisch werden wir Corona überwinden; geistig, kulturell, auch theologisch wird uns Corona noch lange im Griff haben und beschäftigen.
2. Wie können wir die Krise verstehen?
Die theologische Frage des Erdbebens von Lissabon war die Frage der Theodizee: Wie kann der gute und allmächtige Gott solches zulassen? Diese Frage galt im 19. Jahrhundert als der »Fels des Atheismus« (Georg Büchner). Im 20. Jahrhundert wurde die Theodizee-Frage nach dem unerhörten Verbrechen, das sich mit dem Namen Ausschwitz verbindet, erneut zum Thema. Damals ist mit der eiskalt geplanten und industriell ins Werk gesetzten barbarischen Ermordung von Millionen unschuldiger Menschen mit dem Rauch aus den Krematorien die abendländisch-europäische Kultur, so wie wir sie bisher kannten, in Rauch aufgegangen.
Die Corona-Krise ist anderer Art. Auch wenn am Anfang menschliches Versagen gestanden haben sollte, ist sie keine von Menschen gemachte Krise, sondern eine Naturkatastrophe von weltweitem Ausmaß. Sie war das, was man philosophisch ein kontingentes Geschehen nennt, das heißt ein Geschehen, das nicht aufgrund eines Naturgesetzes notwendig, aber dennoch möglich ist. Es hat sich etwas ereignet, was nicht notwendig, aber offensichtlich möglich ist, etwas das uns zustößt, zufällt und betrifft (contingere).1
Als solches Kontingenzproblem haben wir die Corona-Krise philosophisch und theologisch zu diskutieren. Die Frage lautet: Wie können wir als Menschen mit solcher wie mit vielen anderen Formen unvermeidlicher Kontingenz der Wirklichkeit und des Lebens fertig werden? Das ist keine abstrakte, das ist eine sehr konkrete existentielle und – wie zu zeigen sein wird – eine weit ins Politische wie ins Kirchliche hineinreichende Frage.
Das Problem ist nicht neu. Die Griechen waren von der Ordnung und Schönheit des Kosmos fasziniert, und heute wissen wir noch viel mehr von der wunderbaren Ordnung sowohl im Makro- wie im Mikrokosmos bis hinein in den atomaren und subatomaren Bereich, bis in die kleinsten Zellstrukturen und Gene des Lebens. Doch schon Aristoteles wusste um die Kontingenzproblematik, und heute wissen wir spätestens seit der Relativitäts- und der Quantentheorie (Albert Einstein und Werner Heisenberg), von der Chaostheorie erst gar nicht zu reden, dass die Wirklichkeit nicht, wie im 17./18. Jahrhundert Isaac Newton meinte, nach der Art eines großen mechanischen Uhrwerks abläuft und die Evolution des Alls vom Urknall und von der Amöbe bis zum homo sapiens nicht linear verläuft, sondern nach dem Gesetz von Zufall und Notwendigkeit (Jaques Monod) zu denken ist.
Im Anschluss an Aristoteles hat Thomas von Aquin das Kontingenzproblem weiter und zu Ende gedacht. Er stellt das Kontingenzproblem grundsätzlich und das heißt im Blick auf die Wirklichkeit insgesamt als Grundfrage der Metaphysik, wie sie später Leibniz, Schelling, Heidegger formuliert haben: »Warum ist überhaupt etwas und nicht lieber nichts?« Alles Wirkliche ist offensichtlich möglich, aber nicht notwendig; es könnte auch anderes und es könnte auch nicht sein. Warum also ist es nicht nicht, warum ist etwas? Das ist nach Thomas nur möglich, wenn es etwas gibt, das nicht nicht sein kann, das also notwendig ist. Das nennen alle Gott.2 Man nennt das den dritten der fünf Gottesbeweise des Thomas von Aquin. Doch Thomas selbst war klug genug, um nicht von fünf Beweisen, sondern von fünf Wegen zu Gott zu sprechen, das heißt fünf Wege, um den damals allgemein vorausgesetzten Gottesglauben als intellektuell verantwortbar und insofern als vernunftgemäß zu erweisen.
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