„Schauen wir uns die Schweinerei mal an“, murmelte sich Tim in seinen Dreitagebart.
„Wenn Sie erlauben, würde ich lieber davon Abstand nehmen“, entgegnete Hartung. „Ich hatte vorhin schon das Vergnügen. Fast wäre mir das Croissant wieder hochgekommen. Wahrlich kein schöner Anblick.“
Du Glücklicher , dachte Berger bei sich. Immerhin hattest du heute schon feste Nahrung.
„Was geht, Max?“ Der Hauptkommissar trat zu Schenk und musste sich instinktiv die Hand vor den Mund halten.
Verdammt! Was war das? Die Leiche lag völlig zerfetzt vor einem Baum. Im Umkreis von fünf Metern verteilten sich Gedärme und andere Innereien auf dem Platz. Ebelings Gesicht war aufgeplatzt, der Hals und Bauch aufgerissen. Fliegen und andere Insekten labten sich an dem geronnenen Blut und den Wunden. Noch schrecklicher sah das Hinterteil des Toten aus. Ein faustgroßes Loch klaffte an der Stelle, wo einmal der Anus gewesen war. Ein übler Gestank von Kot und Blut umhüllte die Umgebung der Leiche.
„Grüß dich, Tim“, sagte Schenk. Der Mittvierziger sah mit seinem brav gescheitelten schwarzen Haar wie ein überalterter Klassenstreber aus. Er schob seine verrutschte dunkle Hornbrille wieder zurück auf die verschwitzte Nase.
„Üble Sache. Gastiert in der Nähe ein Zirkus mit einem ausgebüxten Elefanten? Den Toten muss ein Dickhäuter geknallt haben. Ich habe ansonsten keine Erklärung für die enorme Verletzung im analen Bereich.
Ansonsten kann ich keine von außen herbeigeführten Verletzungen feststellen. Keine Bisspuren eines Tieres, Schnittspuren Fehlanzeige. Ziemlich unwahrscheinlich, dass ein normaler Mensch so ein Blutbad anrichten kann.
Definitiv kann man davon ausgehen, dass die Leiche hier unter den vorhandenen Temperaturen seit mindestens 12 Stunden „post mortem“ liegt; eher länger in Anbetracht der vollständig ausgebildeten Totenstarre.“
„Wann weißt du mehr?“, fragte Tim den Kollegen.
Maximilian teilte ihm mit, dass nicht vor morgen Nachmittag erste genauere Ergebnisse zu erwarten waren. Hinter Bergers Stirn arbeitete es. Er schob die Haarsträhne aus dem Gesicht. Schenk bemerkte das und nahm ihm gleich den Wind aus den Segeln.
„Denk nicht mal dran, Tim. Reich hat seinen Freund definitiv nicht umgebracht. Ich hatte dir doch eben schon meinen vagen Standpunkt erläutert.“
Berger verabschiedete sich vom Pathologen, nachdem sie für den nächsten Tag um 15 Uhr einen Termin in der Göttinger Gerichtsmedizin vereinbart hatten.
Er ging zu den in weißen Overalls gekleideten Mitarbeitern von der Spurensicherung und erkundigte sich nach einer brauchbaren Fährte. Ramona Bauer und Michael Winkler hatten jedoch nur Negatives zu berichten. Außer Butterbrotpapier und zwei leeren Schnapsfläschchen in einem Mülleimer war man nicht fündig geworden. Die Gegenstände hatte man in kleine Beweismittelbeutel versiegelt und wurden nun zusammen mit dem Leichnam nach Göttingen in die Pathologie gebracht.
Tim Berger wandte sich nochmal an den Kollegen Hartung.
„Was ist eigentlich mit dem Wanderer, der das Schlamassel hier entdeckt hat? Hat der noch irgendetwas Merkwürdiges gesehen?“
Der Polizeiobermeister verneinte. Man hatte den Mann mit der Option auf weitere Fragen nach Hause geschickt. Hartung informierte den Hauptkommissar auch gleich, dass er soeben mit der Dienststelle telefoniert hatte. Demnach war Reich immer noch nicht in die Pension zurückgekehrt.
So tauschten die beiden Polizisten noch die Handynummern aus und vereinbarten spätestens am kommenden Tag miteinander zu sprechen, falls sich nicht noch etwas Neues in dem Mordfall ergeben sollte.
Danach besprach der Hauptkommissar mit seinem Vorgesetzten Jürgen Ludwig den Stand der Dinge. In beiderlei Einvernehmen ordnete der Vorgesetzte eine Untersuchung des Terrains an. Gleich morgen früh sollte es losgehen. Der Hauptkommissar wirkte angespannt…
Das Knollenkreuz hatte sich mittlerweile geleert und Tim überlegte, was man mit dem restlichen Nachmittag anstellen könnte. Es war erst 14 Uhr und so inspizierte er die Lichtung. Halb rechts aus der Richtung, von wo er gekommen war, ging ein weiterer breiter Weg Richtung Einhornhöhle/Burgruine Scharzfels. Er lief dorthin und stellte fest, dass nach zwanzig Metern rechter Hand ein schmaler Pfad in den Wald führte. Ob die beiden Hannoveraner wohl von hier in ihr Unglück gelaufen waren? Wahrscheinlich, denn ein Schild kam in Bergers Blickfeld: „Großer Knollen, 3,8 km, geöffnet täglich von 10 bis 17 Uhr, montags Ruhetag“.
Okay, die Fakten hatten ergeben, dass Ebeling und Reich zum Großen Knollen wandern wollten. Demnach waren sie nach 17 Uhr dort zum Abstieg aufgebrochen und bei bequemem Gang nach ca. einer Stunde hier am Knollenkreuz eingetroffen. In der Zeit zwischen 18 und 1 Uhr nachts musste also der Mord passiert sein. Wohl eher 18 Uhr grübelte Tim vor sich hin.
Spontan beschloss er der Bergbaude noch einen Besuch abzustatten. Vielleicht konnte ihm dort jemand Informationen geben. Außerdem hing ihm langsam der Magen in der Kniekehle. Gut, dass der Hauptkommissar heute Morgen die „schnellen Schuhe“ in Form seiner schwarzen Reeboks gewählt hatte und so machte sich Berger auf den Weg.
Goslar war ein beeindruckendes Städtchen am Rande des Nordharzes. An diesem sonnigen Tag zog es wieder viele Touristen in das Weltkulturerbe. Das Bergwerk Rammelsberg oder die Kaiserpfalz luden ein, besichtigt zu werden. Wenn man keine Lust auf einen Kulturschock hatte, konnte man aber auch einfach nur in der mittelalterlichen, historischen Altstadt bummeln gehen.
Ein alter Bekannter verbrachte an diesem Tag auch seit den Mittagsstunden seine Zeit in der Stadt. Unweit des Bahnhofs befand sich die Niedersächsische Staatsbibliothek. Dort saß Sprengmeister Heinz Sattler auf einem bequemen Sessel und blätterte in einem Buch.
Ihm ging es heute gar nicht gut. Am Morgen hatte er sich noch Morphium gespritzt. Seine tödliche Krankheit schritt unaufhörlich voran. Er musste husten. Die vielen Jahre im Schachtbau und damit das ständige Einatmen von Staub und Dreck hatten doch ihre Spuren hinterlassen. Vor zwei Jahren erhielt Sattler in der Göttinger Uniklinik die Diagnose: Lungenkrebs im fortgeschrittenen Stadium. Ein Karzinom hatte in beiden Flügeln gestreut, welche dadurch nicht mehr operabel waren. Der Professor gab ihm noch zwei, vielleicht drei Jahre, die er bestmöglich nutzen sollte.
Der Sprengmeister besaß einen Plan. Er kannte diese alte Sage schon von Kindheit an. Sein Großvater hatte sie ihm schon als Bub immer wieder erzählt. Und jedes Mal war er erneut fasziniert gewesen, wenn er auf Opas Schoß gesessen und andächtig seinen Worten gelauscht hatte.
Dann fand Sattler in der Sagen-Zusammenstellung, wonach er gesucht hatte und begann zu lesen…
4.1
Das Höllentor zu Lutterberge
Anno 1352 im Namen des Herrn
Vor vielen hundert Jahren gab es einen Müller, der eine prächtige Mühle unterhalb des Lutterbergs in dessen Tal bewirtschaftete .
Sieben Gesellen unterstützten ihn bei der beschwerlichen Arbeit, tagsüber das kostbare Korn zu mahlen .
Der Müller war reich und großzügig gegenüber seinen Angestellten, die des Nachts mit ihm in einem Schlafsaal nächtigten .
Doch war er schwerkrank und wusste, dass er bald das Zeitliche segnen würde. So beschloss er eines Tages, seinem Schicksal zuvor zu kommen .
An einem schönen Sonntag lief er das Luttertal hinauf um sich in einsamer Abgeschiedenheit von einem Felsen in den Tod zu stürzen .
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