»Das haben Sie alles während der letzten drei Wochen mitbekommen?«, fragte ich.
Sie zuckte schuldbewusst zusammen. »Nicht, dass Sie denken, ich würde den lieben Tag lang hinter der Gardine lauern. Oder mit dem Ohr an der Wohnungstür kleben.«
Nein, natürlich nicht. Wie könnte ich?
»Unser Haus ist sehr hellhörig, müssen Sie wissen. Da bekommen Sie alles mit. Natürlich höre ich es, wenn der Pizzaservice liefert. Und eine von den Haushaltshilfen habe ich im Hausflur getroffen, als ich meine Post reingeholt habe.«
Oder du hast zufällig genau in dem Moment deine Post reingeholt, als du die Haushaltshilfe im Flur gehört hast, dachte ich.
»Und mit der haben Sie sich unterhalten?«, hakte Erwin nach.
Frau Berger nickte. »Unterhalten ist vielleicht zu viel gesagt, sie sprach kaum Deutsch. Sie hatte gerade gekündigt. Kann diese Mann da oben nicht aushalten, hat sie gesagt.«
»Wie viele Mietparteien wohnen bei Ihnen im Haus?«, wollte ich wissen.
»Vier«, entgegnete sie. »Die Dengelmanns und ich links, rechts unten Professor von Rabenstein, ein sehr höflicher älterer Herr, und über ihm ein kinderloses Lehrerehepaar. Sehr ruhige und gediegene Leute. Aber man hat nicht viel miteinander zu tun. Man grüßt sich im Hausflur und wünscht sich einen guten Tag und einen guten Weg.« Sie zuckte mit den Schultern. »Das reicht mir auch vollkommen aus.«
»Wie kam es, dass Frau Dengelmann und Sie sich angefreundet haben, wenn Sie ansonsten Distanz zu Ihren Nachbarn halten?«
Sie sah mich an und lächelte. »Nachdem sie und Gerhard über mir eingezogen waren, fünfzehn Jahre ist das jetzt her, liefen wir uns immer mal wieder im Flur über den Weg. Oder an der Mülltonne. Und eines Tages lud ich sie spontan zu einer Tasse Kaffee ein, weil ich gerade Kuchen gebacken hatte. Im Laufe der Zeit entwickelte sich zwischen uns eine echte Freundschaft. Anfangs besuchten wir sogar mal eine Matineevorstellung im Kino, verschiedene Museen und einen Literaturzirkel, bis Gerhard zu nörgeln begann, weil das Geld kostete. Danach bildeten wir unseren eigenen kleinen Literaturzirkel. Wir lasen gemeinsam einen Klassiker und diskutierten dann darüber.« Bei der Erinnerung daran seufzte sie. »Sie war mir gleich sympathisch gewesen, die Jutta. So eine höfliche und ruhige Frau, hatte ich gleich bei unserer ersten Begegnung gedacht. Immer angemessen gekleidet. Sehr adrett und überaus geschmackvoll.«
›Höflich‹ und ›ruhig‹ schienen eindeutig Kriterien zu sein, mit denen man bei Frau Berger punkten konnte. Ach so, ›gediegen‹ natürlich auch. Auf den ersten Blick nichts, das auf Erwin und mich zutreffen würde.
Vermutlich waren wir für sie – rein optisch – auch nicht unbedingt vertrauenswürdig, sinnierte ich. Es sei denn, sie hielt Ringelpulli und Jeans für adrett, was ich stark zu bezweifeln wagte. Aber welche Wahl hatte sie? Sie war auf der Suche nach Hilfe, und wir boten Hilfe an.
Wie lautete der Text von Erwins Anzeige so schön: Sie suchen – ich finde. Sie haben Fragen – ich biete Antworten. Sie wollen Diskretion – ich schweige wie ein Grab. Vielleicht hätte sie niemals angerufen, wenn daneben ein Foto von ihm abgedruckt gewesen wäre. Oder von mir.
Hätte, hätte, Fahrradkette.
Jetzt war sie hier und kam aus der Nummer nicht mehr raus. Und immerhin schienen wir auf sie einen leidlich akzeptablen Eindruck gemacht zu haben, da sie keine Ausreden hervorgezaubert hatte, um sich wieder zu verkrümeln. Die Dame musste wirklich verzweifelt sein.
»Diese Anzeige, die Sie uns mitgebracht haben«, ich deutete auf den Zeitungsausschnitt, der zwischen uns auf dem niedrigen Tisch lag, »äh ... hätten Sie gern, dass wir zur nächsten Person, die sich auf die Anzeige meldet, Kontakt aufnehmen?«
Sie sah mich verdutzt an und schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Sie müssen doch in seine Wohnung, um dort nach Spuren zu suchen, nicht wahr? Und deshalb bin ich ja so froh, dass Herr Schneider in Ihnen eine passende Mitarbeiterin hat.«
Passende Mitarbeiterin? Passend wozu?
Ich verstand kein Wort.
Ehe ich nachfragen oder mich über Erwins wissendes Grinsen wundern konnte, fuhr Frau Berger fort: »Ich dachte, dass Sie sich auf die Anzeige bewerben.«
»Das könnt ihr vergessen, Herrschaften«, blökte ich, während ich mit großen Schritten durchs Büro tigerte. »Ich werde auf keinen Fall als Putze bei diesem Blödmann anheuern, der vielleicht ein brutaler Meuchelmörder ist!«
Frau Berger hatte sich für heute verabschiedet, und nun hielten die Mitarbeiter der Detektei Schneider Kriegsrat.
»Wieso denn?«, fragte Dennis. »Undercover kannst du doch super. Das hast du doch überaus eindrucksvoll bewiesen, als du damals ...«
»Hör bloß auf!«, fiel ich ihm brüsk ins Wort. »Hast du schon vergessen, wie Frank und ich danach ausgesehen haben? Und wie lange es gedauert hat, bis alles verheilt war? Und jetzt wollt ihr mich schutzlos einem Kerl ausliefern, der vielleicht Frauen killt?«
Erwin lachte leise. »Du neigst zu Übertreibungen, meine Liebe. Von Frauen in der Mehrzahl kann keine Rede sein, von Mord ebenfalls nicht. Bisher ist nur eine Frau verschwunden, und das auch nur vielleicht. Frau Berger macht sich Sorgen um ihre Freundin Jutta, von der sie seit drei Wochen nichts gehört und gesehen hat. Deren Gatte gibt an, von Jutta Dengelmann verlassen worden zu sein. Noch haben wir keinerlei Grund, daran zu zweifeln. Andersherum kann Frau Dengelmann Dutzende Gründe haben, ohne ein Wort und spurlos zu verschwinden. Und ihrer Freundin nichts davon zu verraten. Vielleicht hatte sie einfach keine Lust, ihren Plan vor Frau Berger zu rechtfertigen oder zu begründen? Wissen wir, ob die gute Jutta nicht jedes Mal, wenn sie einkaufen war, in ein Internetcafé gehuscht ist und über irgendeine Singlebörse jemanden kennengelernt hat, mit dem sie sich gerade vergnügt?«
Nein, das wussten wir nicht.
Dennoch ...
»Würde das etwa zu dem Bild passen, das Frau Berger von ihrer Freundin gezeichnet hat?«, gab ich zurück. »Wer glaubt denn so was?«
»Du musst dringend an deinen Vorurteilen arbeiten.« Erwin schüttelte amüsiert den Kopf. »Unter so mancher biederen Seidenbluse schlägt ein feuriges Herz. Vielleicht sehnte sie sich seit Jahren nach der Leidenschaft, die ihr Gerhard ihr nicht gegeben hat? Das muss Frau Berger nicht zwangsläufig wissen, Freunde. Für dieses Thema würde ich sie mir auch nicht unbedingt als Gesprächspartnerin aussuchen. Gemeinsam Klassiker lesen und über unerfüllte Träume und Bedürfnisse reden – dazwischen liegen Welten. Kann doch sein, dass Jutta Angst davor hatte, ihre einzige Bezugsperson zu verlieren, wenn sie ein derartiges Thema anschneidet?«
»Pfff. Reichlich spekulativ«, fauchte ich.
»Aber doch auch nicht viel spekulativer als deine Fantasievorstellung vom brutalen Frauenmörder, oder?«, warf Dennis ein, der Erwins und meine leidenschaftlich geführte Diskussion fasziniert verfolgt hatte.
Ich funkelte ihn böse an. »Vielen Dank auch, Chef. Schön, dass du mir in den Rücken fällst. Jetzt sag bloß noch, du bist auch dafür, dass ich mich bei diesem Honk um die Stelle bewerbe. Das könnt ihr vergessen!«
Ein echter Teeliebhaber besitzt für jede Sorte eine passende Kanne
(weil der Tee sonst schmollt, wie Loretta vermutet)
»Dengelmann.«
Vor Verblüffung riss ich die Augen auf und ließ beinahe den Hörer fallen. Ich weiß nicht, womit ich gerechnet hatte, aber ganz bestimmt nicht mit dieser warmen, sonoren, schnurrenden Stimme. Dennnngelllmannn – so sprach er es aus, als wäre es ein süßes Versprechen.
Nach Frau Bergers gleichermaßen grellen wie subjektiven Schilderung dieses Herrn, dieses knöchernen, humorlosen Erbsenzählers, hatte ich mir eine schnarrende, trockene und unmodulierte, auf jeden Fall unsympathische Stimme vorgestellt, aber ganz gewiss nicht dieses honigtropfende, sanfte Organ.
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