Übers Wochenende hatten sich offenbar Heinzelmännchen im Büro zu schaffen gemacht, denn die vorherige Kargheit war durch eine beinahe schon wohnzimmerhaft-penetrante Gemütlichkeit abgelöst worden. Plötzlich lag da ein Teppich, auf dem sich vier abgewetzte, braune Ledersessel um einen niedrigen Tisch gruppierten. Erwin hatte bei ebay eingekauft, schloss ich messerscharf. Oder Dennis hatte in seiner Scheune noch ausgemustertes Mobiliar stehen gehabt. Die großen Pflanzen und die Bilder von Fördertürmen und sonstiger Ruhrpott-Romantik an den Wänden hingegen trugen Täubchens Handschrift, die natürlich wollte, dass ihr Erwin es hübsch kuschelig hatte.
Mehrere hohe Birkenfeigen standen in einer Reihe und bildeten einen blickdichten Sichtschutz zu den beiden schlichten Schreibtischen und den Regalen. Auf der Grenze zwischen den beiden Bereichen hatte sich zudem eine Holzkommode materialisiert, auf der eine Kaffeemaschine stand.
»In der hübschen Kommode da sind Tassen, Gläser und Getränke. Für Klientenbesuch«, sagte Erwin, der amüsiert verfolgt hatte, wie ich das Büro und die Neuerungen darin scannte. »Und Plätzchen«, fuhr er fort. »Hat mein Täubchen gebacken.«
»Bisschen früh für Weihnachtsbäckerei, oder?«, maulte ich. »Außerdem: welcher Besuch?«
Wie gesagt: Die Kunden rannten uns bislang nicht gerade die Bude ein. Unsere Referenzliste war kurz: zwei untreue Ehemänner beobachtet, fotografiert und somit überführt, einen inmitten eines Trennungsdramas entführten Hund aufgespürt und dem Besitzer zurückgebracht, eine lange verdächtigte Nachbarin einer Kundin beim nächtlichen Müll-in-den-Vorgarten-Werfen auf frischer Tat ertappt, in einem beschaulichen Vorort einem eifrigen Schlüpfer-von-der-Wäscheleine-Klauer aufgelauert und ihn der Ordnungsbehörde übergeben.
Noch nie seit der Existenz der Detektei hatte sich ein potenzieller Kunde in unser Büro verirrt. Wir hatten alles per Telefon, Mail oder an neutralen Treffpunkten mit den jeweiligen Kunden abgekaspert, also hatte bisher auch nicht die Notwendigkeit bestanden, das bisherige karge Messehallen-Ambiente in eine Wohlfühl-Oase für Spießer zu verwandeln.
Aber nein, das war unfair.
Es war durchaus gemütlich. Und die Sessel waren überaus bequem, wie ich merkte. Als ich kurz davor war, mich zusammenzurollen und ein kleines Nickerchen zu machen, meldete Erwin sich wieder zu Wort.
»Aufwachen, Schlafmütze. Wir haben gleich einen Termin. Jemand benötigt unsere Dienste. Und eines kann ich jetzt schon verraten: kein Fremdgeher, kein Hund, kein Müllterrorist, kein Schlüppidieb.«
Zack, war ich hellwach und saß kerzengerade. Noch immer schlecht gelaunt, aber wach. Deshalb also die wundersame Verwandlung, die mir zuerst so unmotiviert erschienen war. Ich konnte buchstäblich hören, wie Doris gesagt hatte: In dieser ungemütlichen Klitsche empfangt ihr mir keinen Klienten, verstanden? Was sollen denn die Leute von euch denken? Und dann hatten Dennis und Erwin bedröppelt auf ihre Schuhspitzen gestarrt, sich von ihr auf Trab bringen und so lange nerven lassen, bis alles zu ihrer Zufriedenheit erledigt war. Danach dürfte Doris in einer Nachtschicht Plätzchen gebacken haben. Bestimmt stand für Notfälle welcher Art auch immer zusätzlich eine Plastikdose mit Frikadellen im Kühlschrank der Personalküche des Callcenters.
Kaum vorstellbar, dass ein Klient zufällig gerade am Rande des Hungertodes entlangmanövrierte oder derart unterzuckert war, dass er umgehend einen herzhaften Happen benötigte, damit ihm nicht die Sinne schwanden. Aber man konnte schließlich nie wissen.
Außerdem war Doris eine leidenschaftliche Verfechterin der Theorie, dass essen immer half. Egal, bei welchem Gemütszustand. Es geht dir schlecht? Hier, nimm ein halbes Dutzend Frikadellchen, dann wird’s gleich wieder besser. Sollte ein Klient also in seelischen Nöten sein – was gar nicht so unwahrscheinlich war, wie ich zugeben musste –, stand Nervennahrung bereit, um das bedauernswerte Wesen kulinarisch zu trösten.
Das gesamte Personal im Callcenter profitierte von ihrer vorauseilend-mütterlichen Sorge um unser aller Wohlbefinden. Irgendwas gab es immer zu picken, das aus ihrer heimischen Küche stammte: Kuchen, Plätzchen oder eben ihre legendären und zu Recht heiß begehrten Frikadellchen, für die auch ich jedes drei Stunden lang bei Niedrigtemperatur geschmorte Kalbsbäckchen in die Tonne treten würde. Ob ich mal rasch im Kühlschrank nachsehen sollte …?
»Bist du überhaupt nicht neugierig?«, fragte Erwin und riss mich damit aus meinen lukullischen Fantasien.
»Doch, natürlich. Wir bekommen Besuch.«
»So ist es.« Erwin nickte und ließ seine stahlgrauen Minipli-Löckchen tanzen. »Eine Frau Berger. Waltraud Berger. Sie hat mich am Freitag angerufen. Sie braucht Hilfe.«
»Na, das ist aber mal eine faustdicke Überraschung. Jemand ruft eine Detektei an, weil er Hilfe benötigt? Verrückte Welt.«
Dennis musterte mich mit gerunzelter Stirn. »Herrje, komm mal klar, Loretta. Ich kenne ja deine spitze Zunge, aber heute versprühst du reine Salzsäure. Jetzt weiß ich auch, was du gefrühstückt hast: das Monster aus Alien.«
»Ich an deiner Stelle würde meine Stirn lieber nicht so in Falten legen«, fauchte ich. »Du siehst gerade aus wie ein Klingone. Und wenn dann plötzlich dein Gesicht so stehenbleibt, musst du immer so rumlaufen. Für den Rest deines Lebens. Alle Kinder werden weinen und schreiend weglaufen, wenn sie dich sehen.«
»Alter Falter«, murmelte Dennis sichtlich beeindruckt. »Zwei Monster, mindestens.«
»Auf Toast. Mit Käse überbacken. War lecker. Aber jetzt hab ich ein bisschen Sodbrennen.«
Ich zuckte mit den Schultern.
Bisher hatte ich ihnen noch nichts davon erzählt, dass ich meinen Liebsten schon jetzt fürchterlich vermisste – und ich würde es auch nicht tun. Jedenfalls heute nicht.
Ich atmete tief durch. »Tut mir leid, Jungs. Ist heute einfach nicht mein Tag.«
Erwin lachte. »Dann geh mal wacker zu meinem Täubchen und bitte sie um ihr Schminktäschchen, damit du dir ein freundliches Gesicht aufpinseln kannst.«
»Pfff. Wozu? Am Telefon kann keiner sehen, ob ich eine Fresse ziehe. Das mag ich an dem Job ja so.«
»Nix Telefon«, warf Dennis ein. »Du wirst gleich mit Erwin diese Frau empfangen. Und du wirst so sanft wie ein Lämmchen sein. Wir wollen doch einen guten Eindruck machen, oder?«
Ach, so war das. Ich sollte Miss Moneypenny geben.
»Und das stellt ihr euch genau wie vor? Kaffee servieren und dann mit dem Stenoblock auf den Knien dasitzen?«
»Quatsch«, sagte Erwin, »ich hätte dich einfach gerne dabei. Ich schätze dein Einfühlungsvermögen, das weißt du doch. Frau Berger hörte sich am Telefon ziemlich … ich weiß nicht … verzagt an, das trifft es wohl am besten. Ich hatte den Eindruck, dass es sie enorme Überwindung gekostet hat, mich anzurufen. Sie schien mir sehr unsicher. Und ich will sie nicht gleich wieder verjagen.« Er sah mich bittend an und fuhr fort: »Am liebsten wäre mir, du würdest mit ihr reden, und ich halte mich ein bisschen zurück, weißt du?«
»Befürchtest du etwa, dass du in deine alten Muster zurückfällst und die Ärmste einem hochnotpeinlichen Verhör unterziehst? Gestehen Sie, Sie sind entlarvt!« Ich kicherte. »Und dann sehen wir von ihr nur noch den Kondensstreifen.«
»Wer hätte es gedacht – es kann ja doch lachen.« Dennis schüttelte grinsend den Kopf. »Ich dachte echt schon, die Körperfresser hätten über Nacht von dir Besitz ergriffen.«
»Genau!« Ich hob die Hand und klatschte mit ihm ab. »Wer sind Sie, und was haben Sie mit Loretta gemacht?«, fügte ich mit Grabesstimme hinzu.
Erwin beobachtete unser albernes Gegacker einen Moment lang, dann sagte er: »Fertig mit euren Film- und Fernsehzitaten?« Er blickte auf die große Bahnhofsuhr, die – wie ich erst jetzt bemerkte – ebenfalls neu in unseren heiligen Hallen war. »Frau Berger kommt um neun. Wir haben also noch eine Viertelstunde, um uns vorzubereiten.«
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