Rachel Oidtmann und Felix Maier-Lenz
Erste Auflage 2020
Gestaltung und Satz: rombach digitale manufaktur, Freiburg
Lektorat und Korrektorat: Lisa Helmus
Covergestaltung: Kai Kraehmer
ISBN: 978-3-945431-65-8
eISBN: 978-3-945431-66-5
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Langsam bewegten sich die schweren Schritte über den morastigen Waldboden. Nichts erinnerte hier an die lieblichen Katalogbilder des skandinavischen Sommers. Die dichte graue Bewölkung ließ das rote Dämmerlicht am Horizont bestenfalls erahnen, und die zwielichtigen Schatten der Bäume taten ihr Möglichstes, diesem Ort auch den letzten Rest Gastlichkeit zu rauben .
Hinter einer kleinen Lichtung kamen die Schritte zum Stehen. Die Fußabdrücke füllten sich mit Regenwasser, das augenblicklich ihre hohen Matschränder zum Einsturz brachte und so jegliche Spuren dieser traurigen Nachtwanderung für immer fortspülte. Einige Sekunden lang passierte nichts. Dann traf ein dumpfer Schlag den nassen Morast. Wenig später begann der schlammige Boden sich zu öffnen und den leblosen Körper Millimeter um Millimeter in sich aufzunehmen .
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Dank
Über die Autoren
Gedankenversunken starrte Marie Richtung Horizont, wo Wasser und Himmel in einem stufenlosen Grau miteinander verschmolzen. Hin und wieder kreuzte eine Möwe ihr Gesichtsfeld. Ansonsten nahm sie nur die ermüdende Eintönigkeit der frühsommerlichen Ostsee wahr.
Der Fahrtwind legte sich feucht auf Maries Gesicht. Um sie herum tummelten sich urlaubsgestresste Familien und Skandinavien-erfahrene Rentnerpaare, die sich in ihren schlammfarbenen Funktionsjacken kaum von der Umgebung abhoben und die wettergegerbten Gesichter genießerisch in die Richtung reckten, wo sie die Sonne vermuteten.
All das drang nur wie durch einen Schleier zu Marie durch.
Erst der dumpfe Hall des Schiffhorns, der ihr mit anschwellender Wucht in den Bauch fuhr, riss sie aus ihrer Gedankenwelt. Marie atmete tief ein. Die mild salzige Luft löste ein beruhigendes Gefühl in ihr aus.
Ein paar Kinder rannten ausgelassen an die Reling, um dem entgegenkommenden Schiff zuzuwinken. Verwundert stellte Marie fest, dass sie bei ihrem Anblick fast so etwas wie Neid empfand. Es war schon komisch – als Kind konnte es einem gar nicht schnell genug gehen, erwachsen zu werden. Und wenn es dann soweit war?
Sie hob den dampfenden Kaffeebecher in ihrer Hand und atmete den flachen bitteren Geruch von Automatenkaffee ein. Seufzend nahm sie einen Schluck. Vermutlich war es symptomatisch, dass sie sich eher mit den spielenden Kindern identifizierte als mit deren Eltern, die auf verblichenen Plastiksesseln saßen und gerade die Reste eines ausgiebigen Fahrtenpicknicks von den Rettungsbojen räumten.
Hatte sie mit ihrer Abreise überstürzt gehandelt? Hätte sie Alex vielleicht doch eine Chance geben sollen, jetzt, wo er sich endlich für sie entschieden hatte?
Marie schüttelte den Kopf, wie um diese Gedanken zu vertreiben. Aufs Wasser starrend trank sie den Kaffee. Sie konnte sich selbst nicht erklären, was genau sie zu diesem Schritt veranlasst hatte. Warum sie ausgerechnet jetzt ihr Leben in die Hand nehmen und noch einmal ganz von vorne anfangen wollte. Alleine. Irgendetwas tief in ihr drin hatte diesen Entschluss getroffen, genau in dem Moment, als Alex ihr freudestrahlend von der Entscheidung erzählt hatte, sich von seiner Frau zu trennen. Noch nie zuvor hatte sie so impulsiv gehandelt.
Marie zerdrückte den leeren Becher in einer Hand, zielte und versenkte ihn treffsicher in einem nahe stehenden Abfalleimer. Ein kleiner Junge sah mit bewunderndem Blick zu ihr auf. Marie zwinkerte ihm zu, während in der Entfernung die ersten Gebäude von Trelleborg sichtbar wurden.
Nach und nach machten sich alle Passagiere auf den Weg hinunter zum Autodeck. Nur Marie blieb stehen. Bis zum letzten Moment beobachtete sie, wie sich das Schiff dem Land, der Stadt, dem Hafen näherte. Ein winziges Lächeln zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Irgendwie fühlte es sich richtig an, nicht genau zu wissen, was sie auf der anderen Seite erwartete.
Maries Blick heftete schläfrig auf der Straße. Auf dem Rücksitz ihres alten Corsas standen zwei Reisetaschen. Bei ihrer Abreise hatte sie nur das Nötigste gepackt. Alles andere hatte sie kurzerhand verschenkt, gespendet oder auf dem Speicher ihrer Eltern verstaut.
Seit Stunden schlängelte sie sich nun schon auf einer immer schmaler werdenden Landstraße durch endlose Nadelwälder. Der Tacho stand stoisch auf 90 km/h, seit sie am Abend bei Umeå die Autobahn verlassen hatte. Kurz hinter der kleinen Ortschaft Vännäs schaltete sie von ihrer Playlist, die sie seit gestern mindestens drei Mal durchgehört und eigentlich von Anfang an gelangweilt hatte, auf Radio um. Sie wechselte den Sender, als Bon Jovis „Living on a Prayer“ ihr einen headbangenden Alex vor Augen führte, versuchte den allgegenwärtigen Evergreens von ABBA zu entkommen und blieb schließlich bei einem Song hängen, der in bestem Oldschool-Rock die kurzen schwedischen „Sommartider“ beschwor. Die Stimme des Sängers weckte eine unbestimmte Erinnerung in Marie.
Sie hatte schon fast aufgehört die Stunden zu zählen, als sie endlich Lycksele passierte, von wo aus es laut Navi nicht mehr allzu weit bis Lågomby war. Beim Blick aus dem Fenster stellte Marie mit einer Art unruhigem Erstaunen fest, wie klein und beschaulich hier alles wirkte. Es war kaum jemand auf der Straße zu sehen. Und das, obwohl es draußen noch beinahe taghell war.
„Kein Wunder, dass es hierhin keine Touristen verschlägt“, murmelte sie vor sich hin und versuchte vorsichtig, sich hinterm Steuer zu strecken. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass es alles andere als eine leichte Aufgabe war, für die sie sich so bereitwillig gemeldet hatte.
Wie um sich zu beruhigen, erinnerte sie sich an einen Artikel, den sie kürzlich auf der Arbeit gelesen hatte, laut dem immer mehr Menschen im Urlaub die Einsamkeit suchten.
Als sie sich der Adresse am Ortsrand von Lågomby näherte, die Lennart Sandberg ihr als Unterkunft genannt hatte, war es bereits nach Mitternacht. Trotzdem erschien der Himmel noch immer in einem schwachen Dämmerlicht.
Sie bog von der Hauptstraße ab und fand sich auf einer Art Waldweg wieder. Am Anfang des Björnvägs passierte sie noch zwei, drei Häuser, dann kam lange nichts. Eine Straßenbeleuchtung gab es nicht. So hell es ihr eben noch vorgekommen war, so sehr wurde nun das fahle Nachtlicht durch die immer dichter stehenden Bäume geschluckt.
Marie fuhr langsamer. Genau in dem Moment, in dem der Weg als Sackgasse endete, erklang die zuversichtliche Mitteilung aus dem Navi: „Sie haben Ihr Ziel erreicht.“
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