Nun ja, was soll ich darum herumreden. Wenn man geradeaus fährt, dann steht da dieses Denkmal für den verschollenen Geografen. Ich hab noch gebremst, aber das war wohl zu spät. Jedenfalls bin ich voll gegen das Denkmal gekracht, und die Steinsplitter sind durch die Gegend geflogen. Ich hab mich instinktiv geduckt und mir ist gar nichts passiert. Selbst die Frontscheibe ist heil geblieben. Und da habe ich gesehen: Das Denkmal war ist nicht aus Marmor, wie ich gedacht hatte, sondern lediglich aus Gips, zumindest die äußere Schicht. Und darunter befand sich der Körper des verschollenen Forschungsreisenden, der jetzt, wo er seiner stützenden Hülle beraubt war, schlaff in sich zusammensackte.
»Oh!«, sagt meine Nachbarin. Sie hat den Krach gehört und ist nun herbeigeeilt.
»Das tut mir leid«, sage ich. »Das ist natürlich alles meine Schuld. Ich werde selbstverständlich für den Schaden aufkommen.«
Sie lacht. »Du bist betrunken!«, sagt sie.
»Nein, nicht wirklich. Das ist nur Bier. Drei Flaschen Köpi und drei Flaschen Flens. Oder vier. Aber man soll die Sachen natürlich nicht durcheinander trinken. Das war mein Fehler. Ich habe gewusst, dass man das nicht soll. – Und was machen wir jetzt?«
»Auffegen«, schlägt sie vor.
»Und mit ihm?« Ich deute auf den Toten. »Er stinkt«, füge ich hinzu.
»Er stinkt mir schon lang«, bestätigt Stella. Und dann erfahre ich, was für ein Schwein dieser Weltreisende gewesen ist.
»Ich kann dir helfen«, sage ich. »Ich weiß, wie wir die Leiche loswerden.«
»Wie denn?«
»Wir zerstückeln sie und entsorgen sie über die Restmülltonnen. Die sind ja bei den meisten Leuten nie ganz voll. Für einen Arm oder ein Bein ist immer noch Platz.« Die Müllabfuhr kommt nämlich am Freitag immer ganz früh. Man muss die Tonnen schon am Vorabend rausstellen, sonst werden sie gar nicht mitgenommen. »Und heute ist Donnerstag.«
Um es kurz zu machen: Ich habe meine Motorsäge geholt, und dann haben wir den Toten zerlegt und die einzelnen Stücke zusammen mit den Gipsbrocken auf die Tonnen in unserer Siedlung verteilt. Eine gute Stunde später stehen wir wieder in Stellas Einfahrt.
»Optisch ist da jetzt eine Lücke entstanden«, sage ich. »Da muss wieder irgendetwas hin. Eine andere Skulptur.«
»An was denkst du?«
»Ein Einhorn«, schlage ich vor.
Sie lacht, dann sagt sie: »Ja, ein Einhorn. Das wäre eine Möglichkeit. Oder wir stellen meinen ersten Mann dort hin.«
Ich stutze: »Deinen ersten Mann?«
»Ja, der steht doch zurzeit noch in der Kunsthalle in Hamburg. Der ›Denker ohne Feigenblatt‹. Den kennst du doch, oder?«
Ja, natürlich kenne ich den. Stella hat die Bronzeskulptur so gestaltet, dass der Betrachter den Eindruck gewinnt, dass der Denker nur an das denkt, was in dieser Plastik ohnehin zu groß ausgefallen ist, so dass man es mit einem Feigenblatt niemals verdecken könnte.
»Die Ausstellung schließt nächsten Monat«, sagte Stella. »Und dann kommt Knut wieder hierher zurück.«
»Und das war also dein erster Mann?« Ich hatte gar nicht gewusst, dass Stella früher schon einmal verheiratet gewesen war. »Was ist aus dem geworden?«
»Tot«, sagt sie.
Ich setze das Bierglas ab.
»Ja, der ist leider verstorben. Männer sind so empfindlich.«
»Wie – wie ist das passiert?«, frage ich.
»Erfroren. Im Winter, beim Schnee fegen. Ich hatte ihm gesagt, er sollte auf keinen Fall schon vor dem Frühstück Schnee fegen. Das ist ganz schlecht für den Kreislauf. Aber er hat ja nicht auf mich gehört. Ich habe ihn erst gar nicht vermisst, wir hatten ja getrennte Schlafzimmer. Aber als er dann gegen halb elf noch immer nicht zum Frühstück erschienen ist, da habe ich bei ihm oben nachgesehen. Da war er nicht. Er lag draußen auf dem Bürgersteig.«
»Wie furchtbar!« Manche Leute ziehen das Unglück einfach magisch an.
Stella nickt. »Ich habe ihn dann schnell reingeholt. Da draußen konnte er ja nicht einfach liegen bleiben.«
»Warum nicht? Es war doch ein Unfall.«
»Ja, natürlich. Aber er ist auf den Hinterkopf gefallen, und wer nicht gewusst hat, dass das ein Unfall gewesen ist, der hätte vielleicht denken können, dass jemand ihn erschlagen hat. Ich zum Beispiel. Da habe ich ihn lieber in die Plastik eingebaut. Zur Sicherheit, verstehst du?«
Ich nicke.
»Wir könnten seine Bronze hier an der Auffahrt aufbauen. Als Ersatz für das alte Gipsmonument. Das wäre sozusagen die Minimallösung. Aber dabei müssen wir es nicht belassen. Wenn wir eine etwas größere Lösung anstreben, dann käme vielleicht dein Einhorn ins Spiel …«
»Das wäre großartig«, sagte ich.
»Großartig schon. Aber nicht ideal.«
»Sondern?«
Stella schloss die Augen. Sie schien zu überlegen. »Ideal ist es«, sagte sie schließlich, »wenn wir überhaupt kein Denkmal aufstellen. Wenn wir stattdessen einfach den Zaun wegreißen und die beiden Grundstücke vereinen. Dann brauchen wir nur noch eine einzige Auffahrt, und der Hang mit den beiden Häusern im Hintergrund würde zu einem großartigen Gesamtkunstwerk verschmelzen …«
»Unsere beiden Grundstücke?« Ich begreife nicht, was Stella meint, aber sie setzt mich sofort ins Bild.
»Ja, die beiden Grundstücke.« Sie nickt eifrig. »Und unsere beiden Leben. Du bist ledig und ich bin Witwe. Du bist zwar schon 67, aber doch ein attraktiver Mann mit einer praktischen Begabung und mit ungewöhnlichen Ideen. Und das ist es, was eine Künstlerin braucht. Keinen reichen Langweiler, sondern eine echte Muse, und heute ist mir bewusst geworden, was alles in dir steckt. Wir sollten heiraten.«
»Meinst du wirklich?« Das kommt für mich jetzt etwas überraschend. Sie ist schließlich an die 30 Jahre jünger als ich.
»Ja, das meine ich.«
Stella hat noch eine angefangene Kiste Corona in der Küche. Die werden wir jetzt nach getaner Arbeit gemeinsam leeren. Sie sagt: »Kein anderes Bier sorgt zum Feierabend für dieses relaxte Gefühl von Strand und Sonne …«
Ja, das stimmt. Wenn man genug davon trinkt. Aber das Bier ist zu warm. »Hast du Eiswürfel?«, frage ich.
Nein, hat sie nicht. Ich laufe schnell rüber und hole welche aus meinem Gefrierfach. Eigentlich tut man natürlich keine Eiswürfel ins Bier, aber dieser Sommer ist wirklich unnatürlich heiß, und was will man machen, wenn das Corona warm ist? Warm schmeckt es einfach nicht.
Wir sitzen zusammen im Wohnzimmer und plaudern. Ich erzähle ihr meine Lebensgeschichte. Das dauert nicht lange. Ich habe nicht allzu viel erlebt. Ich bin pensionierter Beamter, mein Vater war bei der Bundeswehr; ich habe den Kriegsdienst verweigert. Ich wüsste nicht, was ich sonst noch erzählen sollte, aber ich brauche mir keine große Mühe zu geben. Stella erzählt und erzählt.
»Oh!«, sagt sie plötzlich und hält inne. Sie hat den Eiswürfel mit Lettow-Vorbecks Nase erwischt.
»Entschuldigung«, sage ich. »Das ist nur die Nase von General Lettow-Vorbeck …« Ich weiß nicht weiter.
Sie starrt mich an. »Na, dann Prost!«, sagt sie »Und ›Heia Safari!‹« Kein Zweifel, sie weiß jedenfalls, wer der General gewesen ist. »Du bist der ungewöhnlichste Beamte, dem ich je begegnet bin«, fügt sie hinzu.
»Das mag wohl sein«, sage ich. Dabei weiß sie noch gar nicht, dass ich bei der Kriminalpolizei gearbeitet habe. Jetzt erzähle ich es ihr.
»Es stört mich nicht«, sagt sie ohne zu zögern. »Aber meine Vergangenheit …«
»Die stört mich auch nicht.« Von mir aus können wir heiraten. Ich muss nur aufpassen, dass ich nicht in einem ihrer Kunstwerke lande.
Jürgen Ehlers, geboren 1948, ist Geowissenschaftler und Krimiautor. Für seine Story Weltspartag in Hamminkeln wurde er mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Sein Spezialgebiet sind historische Kriminalromane und Thriller. Zuletzt erschien Im Haus der Lügen (BoD 2020), der abschließende dritte Band der Holland-Trilogie. Die Geschichte spielt in den Jahren 1944-45.
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