In dieser Zeit etablierte sich unter dem Terminus »Transitional Justice« ein interdisziplinärer Forschungszweig, der sich bis heute Prozessen und Praktiken widmet, die den Übergang von Unrechtsregimen zu demokratischen Gesellschaften prägten und prägen (s. Kritz 1995). Entsprechende Studien haben herausgestellt, wie wichtig die Auseinandersetzung mit begangenem Unrecht für Betroffene ist und dass diese verschiedene gesellschaftliche Aufgaben erfüllt. Ihr Ziel besteht vor allem darin, Vertrauen in eine neue Regierung zu schaffen und das Fundament für ein friedliches Zusammenleben zu festigen. Zu den zentralen Funktionen eines rückwärts gerichteten Blicks zählen (s. Werle/Vormbaum 2018):
Ein Zeichen setzen: Nach dem Ende einer Gewaltherrschaft hat die gesellschaftliche Aufklärung von Großverbrechen Signalwirkung. Mit der Einleitung von Ermittlungen gegen Täter und der Eröffnung von Gerichtsverfahren kommunizieren die neuen politisch Verantwortlichen der Bevölkerung nicht nur den vorangegangenen Verstoß gegen existierende Grund- und Menschenrechte, sondern auch eine neue Zeitrechnung. Demnach gehören bisher geltende Statuten und Regierungspraktiken des Vorgängersystems der Vergangenheit an.
Identität stiften: Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit evoziert Prozesse der Selbstverständigung und Selbstvergewisserung, die wiederum starken Einfluss auf die Identität von Staaten und Gruppen nehmen können. So erklärte Joachim Gauck anlässlich des 70. Jahrestags der Befreiung des größten NS-Konzentrations- und Vernichtungslagers am 27. Januar 2015 in Berlin: »Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz.« Dieses Zitat aus dem bundesdeutschen Kontext demonstriert die enge Verflechtung zwischen historischer Erinnerung und staatlichem Selbstverständnis. Dabei ist nicht nur relevant, was erinnert wird, sondern auch – darauf kam es Gauck mit seinem Verweis auf die konstitutive Rolle der NS-Verbrechen für Entscheidungen und Handlungen der Bundesrepublik nach 1949 vor allem an –, wie sich eine Nation zu ihrer Geschichte positioniert und welche Schlussfolgerungen sie aus der Vergangenheit zieht. An dieser Stelle muss auf den konstruktiven Charakter der hier verhandelten Größen hingewiesen werden, denn »Geschichte« und »Identität« existieren nicht einfach, sondern werden »gemacht«. Folglich bezeichnet der Kulturwissenschaftler Wolfgang Kaschuba erstere als »ständig neu formbare Materie, die immer neue Deutungen ermöglicht«. Geschichte diene zur Durchsetzung bestimmter »Identitätsentwürfe«, wobei er diesen Aushandlungsprozess als »Identitätspolitik« bezeichnet (s. Kaschuba 2001). Neben der Fixierung eines solchen politischen Grundkonsenses stellen sich betroffenen Gesellschaften nach dem Ende der Gewaltherrschaft aber auch ganz konkrete Fragen. Sie wollen wissen, wie es überhaupt zu diesem Unrecht kommen konnte, aber auch, wie man sich in Zukunft das Zusammenleben vorzustellen hat: Auf welche Weise soll man mit den begangenen Verbrechen und den Opfern umgehen? Dabei kann es zunächst zu scharfen Grenzziehungen zwischen Tätern und Opfern kommen, die eine Versöhnung verkomplizieren. Somit werden die politischen Akteure einerseits versuchen, den Verfolgten Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zuteilwerden zu lassen, andererseits werden sie darauf bedacht sein, die Verfestigung einer Opferidentität zu verhindern.
Gerechtigkeit herbeiführen: Leid anzuerkennen, die Täter zu bestrafen und Opfer zu entschädigen – diese Maßnahmen können Hoffnung auf Gerechtigkeit schüren, die wiederum eine Voraussetzung für Versöhnung darstellt. Der sich transformierende Staat erklärt mit solchen Interventionen, dass er sich grundlegend von dem Vorgängersystem unterscheidet. Die offizielle Anerkennung des erlittenen Leids als symbolische Leistung vermag diesbezüglich nicht nur, den Betroffenen Genugtuung zu verschaffen. Sie macht die Opfer überhaupt erst sichtbar und ermöglicht ihnen den Weg aus ihrem Opferstatus, an dessen Ende handelnde Subjekte stehen, die vor Gericht als Zeugen auftreten oder Entschädigungsansprüche artikulieren. Dadurch werden die Opfer nicht nur in das neue Gesellschaftssystem integriert. Strafverfahren können des Weiteren dazu dienen, mit der Erfahrung von Entwürdigung, Entrechtung und Verfolgung besser umzugehen. Zugleich gilt es, auch den Verantwortlichen für das Unrecht Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Der Eindruck einer Siegerjustiz ist zu vermeiden.
Die »Wahrheit« aufdecken und dokumentieren: Dieser Aspekt beinhaltet eine individuelle und eine kollektive Dimension. Für die Angehörigen von Gewaltopfern ist es zunächst wichtig, Informationen über deren Schicksal zu erhalten. Hingegen ist es von allgemeinerer Bedeutung, die »Wahrheit« über Gräueltaten eines Regimes aufzudecken und sie publik zu machen. Damit soll verhindert werden, dass Anhänger des Gewaltregimes diese nachträglich verklären. Zugleich stellt sich dieser Prozess der Wahrheitsfindung als ein Konstruktionsprozess dar, in dem Opfer und Täter ein bestimmtes Narrativ aushandeln, das es ihnen erlaubt, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit Sinn zu versehen und rivalisierende Gruppen zu versöhnen. »Die Wahrheit über die Vergangenheit als autoritatives Narrativ wird im Sinne eines Heilungsprozesses interpretiert«, erklärt der Historiker Alexander Hasgall (2018, 42), »welcher die gesellschaftliche Versöhnung fördert. […] Diese anerkannte Wahrheit ist somit auch die Basis eines neuen Fundierungsnarrativs der Nation – einer gemeinsamen Erzählung, welche deren Identität und grundlegende Werte beschreibt.«
Gewalt verhindern: Mithilfe wissenschaftlicher Analysen des niedergerungenen Gewaltstaats, seiner Strukturen, Befehlsketten und der Motive der Täter, so die Hoffnung, lasse sich zukünftige Gewalt vorhersagen beziehungsweise unterbinden.
Politisch-moralische Grenzen ziehen: Das Wissen über Unrechtsmaßnahmen kann genutzt werden, um politische und moralische Grenzen für die Gegenwart und Zukunft zu markieren. Beispielsweise rekurrieren Teilnehmer an medizinethischen Sterbehilfediskussionen seit Jahrzehnten auf die nationalsozialistische »Euthanasie«-Aktion, um einer Entgrenzung moralischer Werte und ärztlichen Handelns in Gegenwart und Zukunft entgegenzutreten. Ein markantes Beispiel für die immer wieder beschworenen »Lehren«, die man aus der Vergangenheit zu ziehen versucht, ist die Einrichtung von Ethikkommissionen an Medizinischen Fakultäten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, deren Aufgabe es ist, die Forschung am Menschen – das heißt in diesem Fall: die Rechte und den Schutz des Patienten – streng zu überwachen.
Zusammenfassend bleibt mit Blick auf die »Transitional Justice«-Forschung, die seit den 1990er-Jahren politische Wandlungsprozesse untersucht und in deren Kontext die Wiedergutmachung von nationalsozialistischem Unrecht eine besondere Bedeutung spielt, festzuhalten: Die anhaltende Präsenz des Nationalsozialismus als ein öffentliches Thema basiert auch auf der Tatsache, dass sich Gesellschaften weiterhin mit Formen politischer Gewalt konfrontiert sehen.
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