In der Teeküche ist die Temperatur gefallen, die Nachtabsenkung ist effektiv, bemerkt er und die Zeiger der Uhr sind zu einem geworden. Viertel nach neun ist immer noch früh und er hat keine Lust zurück in die Wohnung zu gehen, wo er die Wahl hat, den Fernseher einzuschalten oder es zu lassen. Der Kaffee in der Dose duftet gut und er brüht sich eine Kanne auf, misst sorgfältig ab, Wasser und Kaffeepulver in den richtigen Mengen. Die anderen pfeffern einfach eine ordentliche Portion in den Filter, matschen mit Wasser, sodass die Küchenarbeitsplatte überschwemmt wird. Sie machen sich über seine Pedanterie lustig und er hat sich daran gewöhnt, der Ton zwischen den Leuten in diesem Land ist ironisch, man neckt einander und macht Witze und es wird laut über die Besonderheiten und Gewohnheiten der Leute gelacht, Spitznamen gehören zur Tagesordnung. Am Anfang hat es ihn gestört, dass er nie wusste, woran er bei den Leuten war, jetzt lässt er es abprallen, was bedeutet es schon, dass sie ihn Tante nennen, wenn es sie amüsiert, ist es ok für ihn.
Es wäre leichter gewesen, wenn er in Deutschland geblieben wäre, wie er es sich zuerst überlegt hatte. In Hamburg hätte er Hilfe bekommen können, die Adresse eines Praktikanten, der bei seiner letzten Vorstellung in Berlin Regieassistent gewesen war, stand auf der Rückseite des Zettels mit der Telefonnummer der Freundin.
Der Kaffee ist warm und schmeckt gut. Er ist es, der sich um die Kaffeekasse kümmert und er kauft nur den besten, etwas teureren, aber das ist es ihm wert. Er kostet jeden Schluck, als wäre er der letzte Kaffee, den er in diesem Leben bekommt, versucht sich auf den Kaffeegeschmack zu konzentrieren, aber ständig drängen sich Bilder auf.
Er steht auf dem Bahnsteig im Hamburger Hauptbahnhof mit seiner Tasche über der Schulter, auf westdeutschem Boden und er müsste nur ein paar Schritte gehen, ein Telefon finden und die Nummer auf dem Zettel anrufen, den er in der Zwischenzeit vom Schuh in die Hosentasche gesteckt hat, als sie ihm entgegen kommen. Zwei uniformierte Männer, breitschultrig, vielleicht sind sie bewaffnet, oder vielleicht sieht es auch nur so aus, sie gehen Seite an Seite und nehmen direkt Kurs auf ihn, in einem Augenblick erreichen sie ihn, drehen seine Arme auf den Rücken und ziehen ihn mit, wohin, weiß er nicht, aber er muss als Betrüger, der er ist, enttarnt sein. Der Fremdenpass liegt weiterhin in der Tasche, er ist unter falschen Voraussetzungen in das Land gekommen und wie soll er erklären, dass er, der am prestigeträchtigsten Theater seines Landes angestellt ist, dem Flaggschiff des Regimes, dem Stolz der Nation, sich hier mit dem Pass eines anderen Mannes in der Tasche befindet? Er könnte ein Spion sein, er könnte mit feindlichen Nachrichtendiensten unter einer Decke stecken und er könnte unter Gefängnisstrafe oder Ausweisung stehen und das eine ist nicht besser als das andere.
Bevor er es sich anders überlegen kann, steht er im Zug. Eine Frau mit einem Säugling auf dem Arm hat sich auf seinen Platz gesetzt und er schlüpft in die nächste Toilette und schiebt den Riegel vor. Dort bleibt er stehen, bis er merkt, dass sich der Zug in Bewegung setzt und aus dem Bahnhof gleitet. Er reißt den Pass gründlich in Stücke, winzige Fetzen, die er in der Toilette verschwinden lässt, sieht sie auf die Gleise flattern und verschwinden. Seine Fahrkarte galt lediglich bis Hamburg, aber im besten Fall erkennt der Schaffner ihn wieder und erinnert sich nur, dass er die Fahrkarte kontrolliert hat. Im schlimmsten Fall ist es trotzdem nicht so schlimm, weil er Geld hat, um eine neue Karte zu bezahlen, jetzt kommt er zurecht, aber niemand fragt nach seiner Karte, niemand fragt überhaupt nach irgendetwas, nicht nach seinem Visum, nicht nach seinem Geld, nichts und dann ist er an der Grenze. Der dänischen Grenze, die nur ein Strich auf einer Landkarte ist, die aber nichts desto trotz eine Grenze ist, berechnet, um solche wie ihn zu stoppen. Er spürt, wie sich die Kälte über seinen Rücken ausbreitet und den festen Griff um den Nacken, als er die Stimmen auf dem Bahnsteig hört und die Schritte im Korridor, aber die Grenzbeamten gehen vorbei, er erhascht einen kleinen Blick auf sie und sie sehen freundlich aus, einer von ihnen lacht über etwas, das der andere sagt und der, der lacht, hat einen Vollbart. In dem Land, das er verlassen hat, sind die Leute in Uniform bartlos, ein Beamter mit Bart kann niemandem etwas Böses wollen und er entscheidet sich auf der Stelle. In diesem Land hier will er bleiben und er will sich einen Bart zulegen. Je früher, desto besser.
Auf der Bühne wird er nicht stehen können, nicht ohne Sprache, aber am Theater arbeiten kann er trotzdem, als Kulissenträger oder Techniker. In der Amateurtruppe machten alle alles Mögliche und es spielt keine Rolle, dass er von vorne beginnen muss, wie ein Kind. Ein Kind mit Vollbart. Der Gedanke lässt ihn lachen und das ist das erste Mal, seit er seine Zugfahrkarten gekauft hat, dass er sein eigenes Lachen hört. Vielleicht ist es in Wirklichkeit mehrere Monate her, dass er gelacht hat und das Lachen überrumpelt ihn, aber er kann es nicht zurückhalten. Eine ältere Frau sieht ihn aus ihrer Koupéecke missbilligend an, aber das Lachen ist zu stark, es brodelt hysterisch in seiner Kehle und je mehr er es zu unterdrücken versucht, umso mehr brodelt es. Bis es nicht mehr brodelt. Bis das Lachen kein Lachen mehr ist.
Seit er klein war, traten ihm schnell Tränen in die Augen. Zusammen mit ihr, die nie ganz aus seinem Kopf verschwunden ist, konnten die Tränen kommen, wann auch immer, und sie küsste sie weg, wiegte ihn in ihren Armen, in ihren schlanken, starken Armen, presste ihn an ihre Brust, als wollte sie ihn nie wieder loslassen, bis sie ihn losließ und er frei schwebte, bis er bei Eva landete, eine Zwischenstation, wo kein Platz für Tränen war, sondern nur für Zähne zusammenbeißen und versuchen, sie, die etwas bedeutete, zu vergessen. Eine Unmöglichkeit, wenn kein Tag verging, an dem er sie nicht sah, wenn alles um ihn herum an sie erinnerte, im Theater, in seiner Wohnung.
Die Kaffeekanne ist leer. Er spült sie und den Becher aus und stellt sie in das Gestell, vergewissert sich, dass das Licht überall aus ist. Draußen an der Kellertür stellt er den Alarm wieder an und hört, wie die schwere Tür hinter ihm zufällt, als er die Treppe hoch geht. Eine Prostituierte mit dunklem Teint geht an der Ecke zu seiner Straße an ihm vorbei, want fun, good price, aber er wird sich hüten, er hat noch nie für Sex bezahlt. Sein Bedarf hat auch mit den Jahren abgenommen und im schlimmsten Fall hat er seine rechte Hand, die weder ansteckend ist noch Ansprüche auf Nähe erhebt. Ob es Prostituierte in seinem alten Heimatland gab, weiß er nicht, das war nie aktuell. Hier gibt es viele von ihnen, in den Massagesalons in Kellern und geschlossenen Friseursalons und hier im Viertel stehen sie in ihren kurzen Röcken, dünnen Strümpfen und auf absurden Absätzen auf der Straße, ein paar von ihnen tauchen in regelmäßigen Abständen im Kellercafé auf, stehen plötzlich in der Tür und wenn kein Publikum dort ist, werden sie ins Warme gelassen. Sie frieren, haben einen blauen Fleck oder einen ausgeschlagenen Zahn vorzuzeigen, ihre Zuhälter halten sie an der kurzen Leine und sie haben keinen Ort, wo sie hingehen können, sie sind unter ständiger Kontrolle, nicht einmal ihr Geschlechtsorgan gehört ihnen. Tut ihr Verstand es?
Das war das Schlimmste. Nicht die Mauer, nicht die zugenagelten Fenster, sondern dass der eigene Verstand nicht einem selbst gehörte. Dass man ohne es zu wissen, ohne es bewusst zu wissen, irgendein Relais hinter der Stirn entwickelte, das an- oder ausging, wenn sich ein verbotener Gedanke meldete. Bevor er den Mund erreichte, bevor er den Bleistift in jemandes Hand erreichte.
Die Tür zur Wohnung klemmt leicht, das tut sie seit ein paar Wochen. Der November ist dieses Jahr feucht, es ist bestimmt deshalb, aber er will trotzdem mit dem Hausmeister darüber reden. Der Hausmeister hat seine Rolle zu spielen und wird es ihm übel nehmen, wenn er Werkzeug vom Theater mitnehmen und selber beginnen würde, daran herumzuwerkeln.
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