Sie rufen immer noch hurra. Sie umarmen einander und lachen und weinen, Wunderkerzen versprühen ihre Funken, Leute trinken Sekt direkt aus der Flasche. Die Menschen auf der Mauer sind die Gischt auf einer Flutwelle, die alles auf ihrem Weg mit sich spült, Bürokraten, Polizisten, Schäferhunde, Generäle mit Lametta aus Orden auf der Brust und dieses Land dort hat nicht genug Sandsäcke, um sie zu stoppen, oder jemand hat heimlich und aus Protest die Sandsäcke mit Zucker gefüllt und der Zucker löst sich auf und verwandelt die Welle in Sirup, Tod durch Ertrinken in voller Süße für das sauerste Land der Welt.
Es klingelt an seiner Tür. Das passiert nicht oft, trotz all seiner Jahre im Land, hat er niemanden, den er einen Freund nennen könnte. In Dänemark gibt man vielleicht ein Bier aus und sitzt und schwatzt ein paar Stunden und danach passiert nichts weiter. Meistens ist es nur der Hausmeister, der an einem Hahn drehen oder einen Heizkörper entlüften muss, oder die Zeugen Jehovas, die ihn erlösen möchten. Ein seltenes Mal steht seine Nachbarin mit einem Schlüssel draußen und bittet ihn, die Topfpflanzen ein paar Tage zu gießen. Die Nachbarin ist eine knochige Frau in seinem Alter mit der Patina, die weibliche Alkoholiker nach vielen Jahren in Gesellschaft von Flaschen bekommen, eine grobe Haut, eine Schlaffheit unter den Augen, Haare, die nicht wie Haare aussehen, sondern wie die Füllung einer Matratze.
Ganz genau, sie ist es. Er hat sich die Augen auf dem Weg zur Tür getrocknet, der Fernseher lärmt weiterhin im Hintergrund. Dieses Mal sind es nicht die Topfpflanzen, um die es geht, sie hat eine beschlagene Flasche Schnaps in der Hand, Rød Ålborg, und zwei Gläser und sie lächelt mit ihren fleckigen Zähnen.
– Die Mauer fällt, sagt sie. – Das muss doch gefeiert werden.
Sie steht bereits im kleinen Flur und er kann sie riechen, eine Mischung aus altem Schnaps und dem schweren Parfüm, das sie über sich geschüttet haben muss, um das Schlimmste zu überdecken. Das Ergebnis lässt seinen Magen rumoren. Hinter ihm rufen die Fernsehstimmen, Stasi raus, Stasi raus. Sie haben zu der Demonstration im September geschaltet, wo das Ganze angefangen hat und er findet den Ausschalter und schaltet das Bild weg.
– Wir können es uns doch ansehen, sagt sie.
Auf der einen Seite wäre er gerne alleine, um das Ganze zu sehen, jede Sekunde in sich aufzusaugen, die Tränen strömen lassen, mit sich selbst reden, die Worte auf der Sprache sagen, die er verlassen hat, die aber immer noch irgendwo in ihm lebt. Auf der anderen Seite will er sie nicht bitten, zu gehen. Er weiß nicht, wann er sie mal brauchen könnte. Wenn man alleine lebt, weiß man nie, wann man plötzlich einen anderen Menschen braucht, er macht sich nichts anderes vor, auch wenn er sein Bestes gibt, zu vermeiden, andere als sich selbst zu brauchen. Einen Schnaps kann er annehmen, es muss hart sein, immer alleine zu trinken und sie hat ihm nichts getan, sie ist nie etwas anderes als freundlich ihm gegenüber gewesen.
Ihre Augen schwimmen als sie zum Sofa schwankt, aber ihre Hand ist sicher und verschüttet nicht einen Tropfen, als sie in die Gläser einschenkt. Die Bewegungen erinnern ihn an etwas, etwas Angenehmes, etwas, an das er sich erinnern will, aber erst als er mit ihr angestoßen hat und sie das erste Glas geleert haben und sie ah gesagt und mit der Zunge geschnalzt hat, wird das Bild deutlich, vom Marketender in dem Stück, das der Anfang von dem Ganzen war.
Mutter Courage zapft Bier von einem Hahn am Wagen und der kleine Schlag mit der Hand gegen den Hahn erzählt die ganze Geschichte, von einer Person, die ohne überflüssige Gesten zurechtkommt, jemandem, der jede Situation perfekt unter Kontrolle hat. Während der Proben saß er im Dunkeln und verschlang sie mit den Augen. Die Rolle war sie, sie war die Rolle, aber es konnte nicht die Rede von irgendeinem Hineinversetzen sein, ihre Arbeit war gründlich wie die eines Wissenschaftlers, jede Geste, jeder Tonfall wurde auf eine Goldwaage gelegt und war es das, dem er erlag, war es nur Bewunderung? Er hatte darüber gegrübelt, ohne die Antwort zu finden, bis er sich entschied, es ruhen zu lassen.
Die Frau auf dem Sofa neben ihm streckt die Hand nach der Flasche aus, die zu drei Vierteln voll ist. Alice heißt sie. Oder auch Annie, er ist sich nicht sicher. Es steht A. Madsen an der Tür und jetzt hat sie bereits noch einmal nachgeschenkt und wieder ist nichts verschüttet, die klare Flüssigkeit steht präzise bis zur Kante des Glases und es gelingt ihm nur mit Müh und Not, seins zum Mund zu führen, ohne dass es überschwappt. Ihr Trick ist, mit beiden Händen um das Glas zu greifen, aber nur mit den äußersten Fingerspitzen. Das sieht überlegen aus, raffiniert wie ein Taschenspielertrick, als sie die Flüssigkeit in den Mund kippt.
Nach dem dritten Glas schwirrt ihm leicht der Kopf. Gewöhnlich trinkt er ein Bier, höchstens zwei. Auf Tournee trinkt er nach der Vorstellung zusammen mit den anderen Technikern eins. Nicht weil er Lust dazu hat, sondern weil es sonst so aussähe, als würde er vornehm tun. Ein paar von ihnen wissen, dass er Schauspieler war und die Sache mit den Schauspielern ist heikel. Schauspieler interessieren sich nur für sich selbst, so wird unter den einfachen Arbeitern geredet. Im Gegensatz zu ihnen stehen die Techniker Schulter an Schulter, eine eng zusammengeschweißte Gruppe, einer für alle, alle für einen und keiner ist mehr als ein anderer. Dass die Gruppe ihre eigene innere Hierarchie hat und dass man einander in Schach hält, ist eine andere Sache, aber sollte er es vorziehen, mit den Schauspielern ein Bier zu trinken oder einen kleinen Nachtimbiss zu essen, würde das relative Wohlwollen, das er genießt, durch Hänselei und Hohn ersetzt und warum sollte er sich dem aussetzen?
Alice, oder ist es Annie, hat etwas gesagt. Nach fast dreißig Jahren hat er keine Probleme mit der Sprache, aber die Wörter bleiben schwebend in der Luft hängen und erreichen sein Gehirn nicht, sie hängen wie ein graubrauner Dunst vor seinen Augen. Bis sie sie wiederholt, einmal, zweimal, sie lacht und er sieht die braunfleckigen Zähne, das verhärmte Gesicht, die Lippen, über die sie die ganze Zeit leckt, sodass sie feucht glänzen und sie sagt etwas, aber er kann es nicht hören. Er sitzt in dem Gestank von altem und neuem Alkohol und schlechtem Parfüm und es heult in seinem Kopf, etwas heult da drinnen und übertönt alles andere, alle Gedanken, alle Wünsche.
Jetzt gehst du wohl zurück.
Sie hat die Hand auf seinen Oberschenkel gelegt, wie eine andere einst die Hand auf seinen Oberschenkel gelegt hatte. Es ist eine freundliche Geste, oder vielleicht auch eine Einladung und er will sie nicht beleidigen, er könnte sie mal brauchen, er braucht sie, genau jetzt braucht er sie, um etwas auf Abstand zu halten und er verbirgt sein Gesicht an ihrer Schulter und küsst ihren schlaffen Hals, seine Hände suchen ihre Brüste unter der genoppten Strickjacke, sie trägt keinen BH, stellt er fest und sie zieht sich und ihm die Hosen aus und hilft ihm in sich rein, in eine überraschende Hitze und der Körper macht das, was er soll, während der Verstand in einer Welt auf Hochtouren arbeitet, die nichts mit dem, was auf dem Sofa geschieht, zu tun hat, und er kann es nicht stoppen. Die Worte hallen in seinem Kopf wider, in allen Tonarten, in einem pumpenden, unerbittlichen Rhythmus.
Jetzt gehst du wohl zurück.
Als es überstanden ist und sie wieder nebeneinander sitzen, vollständig angezogen, auf dem Sofa, dessen Kissen etwas flacher geworden sind, aber nicht zu flach, dass man so tun kann, als wäre nichts gewesen und sie jedem seinen Schnaps aus der Flasche eingegossen hat, die nicht mehr beschlagen ist, und sie angestoßen haben und sie ihn mit etwas anlächelt, das man mit ein wenig gutem Willen ein schelmisches Lächeln nennen könnte, weiß er es.
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