»Ja, das tue ich.«
»Ja, das sehe ich.«
»Ja, das sehen Sie.«
»Lassen wir es dabei bewenden. Das ist das Wortwiederholungsspiel aus eurer Sicht. Und es ist bereits ein menschliches Gespräch, stimmt’s?« Dann sagt Meisner zu dem jungen Mann mit den neonpinken Buchstaben auf dem Hemd: »Du starrst mich an.«
»Ich starre Sie an.«
»Du starrst mich an.«
»Ich starre Sie an.«
»Du gibst es also zu?«
»Ich gebe es zu.«
»Du gibst es zu?«
»Ich gebe es zu.«
»Das gefällt mir nicht.«
»Das gefällt Ihnen nicht.«
»Das interessiert dich nicht?«
»Das interessiert mich nicht.«
»Es interessiert dich nicht?«
»Es interessiert mich nicht!«
Meisner streckt dem jungen Mann die Zunge heraus, und er und die anderen Schüler lachen.
»So geht das Wortwiederholungsspiel. Es darf nur nicht zu weit gehen, das würde ich nicht zulassen. Wenn ihr das jetzt zu Hause gemeinsam übt, macht die Übung erst mechanisch, so wie wir angefangen haben. Danach führt ihr sie aus eurer Sicht aus.«
»Ich habe die Stunde mit dem Satz eröffnet, dass das Fundament der Schauspielkunst die Realität des Handelns ist. Wie verhält sich diese Definition zu dem, was wir gemacht haben?«
John meldet sich. »Wenn wir etwas einfach nur tun, konzentrieren wir uns nicht auf uns selber.«
»Ihr befasst euch mit etwas, das außerhalb von euch selbst liegt«, ergänzt Meisner. »Was noch?«
»Wenn man etwas wirklich tut, dann hat man keine Zeit, sich beim Handeln zu beobachten. Man braucht alle Zeit und Energie für das Handeln an sich«, sagt Ray, der junge Mann mit dem gepflegten Bart.
»Das ist sehr gut für euer Spiel. Noch etwas?«
»Es waren alles sehr konkrete, ›mach‹bare Dinge«, sagt Sarah.
»Dann war also alles, wozu ich euch aufgefordert habe, konkret und ›mach‹bar? Was hat es mit dem Wort ›konkret‹ auf sich?«
»Na ja, es ist handfest. Man kann tatsächlich jemanden ansehen und seine Wimpern zählen, oder man kann die Glühbirnen zählen.«
»Es ist also etwas, das wirklich und wahrhaftig, ausdrücklich existiert«, sagt Meisner. »Was bedeutet also die ›Realität des Handelns‹?«
Ein ernst aussehender junger Mann, der bisher noch nichts gesagt hat, meldet sich. »Wenn man etwas tut, dann tut man es wirklich, anstatt nur so zu tun, als würde man es tun.«
»Und vor allem tut man es nicht als Rolle, als Figur. Wenn ihr Klavier spielen wollt, macht ihr dann erst den Deckel auf oder spielt ihr mit geschlossenem Deckel?«, fragt Meisner. »Aus musikalischer Sicht entspricht das Öffnen des Klavierdeckels der Realität des Handelns. Gibt es dazu Fragen?«
»Wir sollten lauter Dinge tun, die man auch wirklich tun kann: eine andere Person beobachten, nach Autos lauschen«, sagt Ray. »Und wenn man sich wirklich darauf konzentriert, ein Auto zu hören oder jemand anders anzusehen, dann braucht man sich keine Gedanken darüber zu machen, ob man eine Figur darstellt. Man tut einfach diese eine Sache und konzentriert sich ganz darauf.«
»Und genau das ist die Figur.«
»Das ist die Figur?«, fragt Ray.
»Ja.«
»Man muss die Figur also gar nicht spielen, sondern sie ist einfach da, indem man handelt?«
»Richtig. Habt ihr das alle verstanden? Jedes Stück, selbst wenn es von diesem Komödienschreiber ist…wie heißt er noch gleich?«
»Neil Simon?«
»Genau. Jedes Stück basiert auf der Realität des Handelns. Selbst wenn Lear die Faust gegen den Himmel erhebt – dann basiert das auf dem lautstarken Aufbegehren des Schauspielers gegen das Schicksal. Begreift ihr das?« Er hält kurz inne. »Das wird sich euch stärker einprägen, als ihr im Moment glaubt. Aber das ist in Ordnung. Es wird sich von selbst offenbaren. Nach und nach kommt es zum Vorschein. Das ist die Grundlage, das Fundament der Schauspielkunst.«
***
»Ein neuer Anfang. Dabei müsste ich doch eigentlich längst aufhören!«, sagt Meisner zu seinem Assistenten Scott Roberts, während sie auf den Aufzug warten, der Meisner in sein holzgetäfeltes Büro ein Stockwerk tiefer bringen soll. »Man sollte mich erschießen wie einen alten Gaul.«
Scott nickt lächelnd.
»Aber das ist wirklich eine spannende Gruppe, sehr vielversprechend. Die Frage ist nur, wie viele von ihnen werden spielen lernen?«
Scott nickt wieder und drückt noch einmal auf den Knopf, um den Aufzug zu rufen. Unten im Erdgeschoss erwacht ein Motor brummend zum Leben.
»Ich unterrichte seit mehr als fünfzig Jahren, und in dieser halben Ewigkeit habe ich bestimmt einigen tausend jungen Menschen das Schauspielen beizubringen versucht. Und ich habe das auch gar nicht schlecht gemacht. Bei dir zum Beispiel war ich sehr erfolgreich.«
»Vielen Dank«, sagt Scott.
»Aber wenn ich mir meine gesamte Erfolgsrate vor Augen hielte, würde ich wahrscheinlich aufgeben. Darum lasse ich das lieber.«
Der Aufzug kommt, und sie steigen ein.
»Schauspielen ist eine Kunst. Und Schauspiel zu unterrichten ist auch eine Kunst, oder es kann zumindest eine Kunst sein. Am Ende ist es eine Frage von Talent – davon, wie ihr Talent und meines ineinandergreifen. Es wird sich zeigen. Aber ich muss sagen, es tut gut, noch einmal von vorn anzufangen.«
3.
DAS KNEIFEN UND DAS AUTSCH
MEISNER: Wie fühlt es sich für dich an, Bruce, wenn du die Bewegungen deiner Partnerin nachmachst?
BRUCE: Es entlastet mich.
MEISNER: Wenn man sich entlasten kann, wie Bruce das gerade formuliert hat, wenn man die Konzentration auf etwas anderes als sich selber richten kann, dann hat man schon sehr viel gewonnen.
3. Oktober
»Also.« Meisner richtet sich an den jungen Mann, der in der letzten Unterrichtsstunde das Hemd mit den pinken Buchstaben anhatte. »Du bist Vincent, und deine Partnerin heißt …?«
»Anna«, sagt die schlanke, dunkelhaarige Frau, die direkt vor ihm sitzt.
»Anna. Gut. Steht jetzt auf und dreht einander den Rücken zu.«
»So, dass wir uns berühren?«, fragt Vincent.
»Ohne Berührung. Vince, komm mal her.«
Vincent geht zu dem grauen Pult hinüber, an dem Meisner sitzt, und sie beraten sich kurz. Dann stellt sich Vincent wieder auf seinen Platz vorne im Raum, mit dem Rücken zu Anna. Er nimmt ein paar Münzen aus der Hosentasche und lässt sie zu Boden fallen.
»Hast du Münzen fallen lassen?«, fragt Anna.
»Ich habe Münzen fallen lassen.«
»Ja, du hast Münzen fallen lassen.«
»Ja, ich habe Münzen fallen lassen.«
»Gut, passt mal auf«, unterbricht Meisner das Wiederholungsspiel. »Vince, ich würde sagen, du hast inzwischen festgestellt, dass sie gute Ohren hat, und das hättest du ihr sagen können. Du hättest das gesagt, weil eine Handlung von ihr dich dazu gebracht hat. Und du, Anna, hättest deinerseits schon mit einem gewissen Recht behaupten können, dass er sorglos mit Geld umgeht, weil er die Münzen fallen gelassen hat.«
»Das wäre aber eine Vermutung«, wendet Vincent ein.
»Es wäre eine Vermutung, die du bestreiten könntest. ›Ich gehe nicht sorglos mit Geld um!‹ Kannst du das nachvollziehen?«
»Ja.«
»Gut. Dann überlegt euch etwas Neues und fangt noch einmal an, ganz langsam.«
Kurz darauf stößt Anna Vincent den Ellbogen in den Rücken.
»Du hast mich in den Rücken geboxt!«
»Ich habe dich in den Rücken geboxt.«
»Du hast mich in den Rücken geboxt.«
»Ja, ich habe dich in den Rücken geboxt.«
»Ja, du hast mich in den Rücken geboxt.«
»Ja«, sagt sie, belustigt über seinem ungehaltenen Ton, »ich habe dich in den Rücken geboxt.«
»Was ist daran witzig?«, faucht er.
»Was ist daran witzig?«
»Was ist daran witzig?«, wiederholt er.
Читать дальше