»Ich muss pinkeln.«
»Ich werde dich nicht zum Pinkeln rauslassen. Du weißt das. Ich sehe auf dem Boden, dass du es nicht halten konntest, bevor ich herkam. Mach dir also keine Sorgen darüber, dass ich derjenige bin, der hier sauber machen muss. Tu einfach, was die Natur verlangt.«
»Bitte. Es gibt Leute, die nach mir suchen werden.«
Greg zuckte die Achseln. »Und? Ich habe ja auch keine Crack-Hure hinter einem Müllcontainer aufgesammelt. Natürlich wird jemand nach dir suchen. Diesen Teil genieße ich, denn ich kann mir ihre traurigen Gesichter in den Fernsehnachrichten ansehen. Wem bricht es wohl am ehesten das Herz, dass du fort bist? Deiner Mutter? Dem Vater? Dem Freund? Deinen Kindern?«
»Ich habe Hinweise hinterlassen.«
»Nein, hast du nicht. Ich glaube, du wusstest nicht einmal mehr, auf welchem Planeten du dich befindest. Wie gesagt, die anderen Mädchen haben schon jeden erdenklichen Trick versucht. Und dass du jetzt hier alles noch einmal wiederkäust, was die bereits gesagt haben, geht mir irgendwie auf den Zeiger.« Er rückte mit dem Stuhl ein Stückchen nach links. »Nicht, dass es einen Unterschied macht. Dein Schicksal bleibt dasselbe, ganz egal, was du tust. Nichts, was du machen könntest, wird etwas daran ändern. Stell dir vor, du wärst vom Dach eines hundertstöckigen Hochhauses gesprungen und würdest jetzt auf den Asphalt zustürzen. Das einzig mögliche Ende dieses Sprungs ist dein Aufprall auf dem Boden. Das einzig mögliche Ende hier ist dein Tod durch Verhungern in deinem Käfig. Wie bei allen anderen auch.«
Er stand auf und trat zu dem Käfig neben Olivias hinüber, stieß ihn sachte an. Die Frau öffnete ihre Augen.
»Oh, gut, du lebst ja noch. Vielleicht habe ich Glück und du bist hinüber, bevor ich gehen muss.«
Die Frau erwiderte nichts.
Greg wandte seine Aufmerksamkeit wieder Olivia zu. »Willst du etwas hören, dass dich echt fertigmachen wird? Ich hätte dich beinahe davonkommen lassen müssen. Ernsthaft. Du hast die ganze Zeit auf dein Getränk aufgepasst. Wenn diese Frau nicht an den Tisch gestolpert wäre und dich abgelenkt hätte, wäre ich das Risiko nicht eingegangen. Vielleicht dachtest du, sie wäre meine Komplizin, aber nee, du hast einfach bloß schreckliches Pech gehabt. Ein betrunkener Fan, der deinen Auftritt lobt, und jetzt bist du hier. Das Leben ist ganz schön seltsam.«
Olivia zeigte keine Reaktion auf diese Enthüllung. Sie war an dem Punkt angelangt, an dem ihr Ironie gleichgültig war.
Greg öffnete die braune Tüte und holte eine Wasserflasche und einen Strohhalm heraus. »Ich weiß, beim letzten Mal war es nicht so toll für dich, dir von mir ein Getränk ausgeben zu lassen«, erklärte er, »aber ich verspreche dir, das hier ist nur Wasser.« Er stellte die Flasche auf den Stuhl und verschwand aus ihrem Blickfeld.
Wieder kratzte etwas laut über den Boden. Er war kräftig genug, um die Trittleiter hochzuheben, daher nahm Olivia an, dass er den gruseligen Lärm mit Absicht machte. Er stellte die Leiter neben den Käfig der anderen Frau, nahm dann die Flasche und stieg zu ihr hinauf. »Ich gebe ihr zuerst Wasser, weil sie dem Tod näher ist«, erklärte er.
Er hielt der Frau die Flasche hin. Sie beugte ihren Kopf vor und begann, durch den Strohhalm zu saugen.
»Langsamer«, mahnte Greg. »Du willst doch nicht, dass dir schlecht wird.«
Doch die Frau trank nicht langsamer. Dann hustete sie und kotzte das Wasser wieder aus, das überall auf den Boden spritzte.
»Langsamer diesmal«, sagte er.
Sie winkte ab. Greg stieg die Leiter hinunter und schob sie neben Olivias Käfig. Er holte eine zweite Flasche Wasser aus der Tüte, öffnete den Deckel und steckte denselben Strohhalm hinein, den er auch für die Flasche der anderen Frau benutzt hatte. Er stellte den Fuß auf die erste Stufe der Trittleiter und blickte dann zu Olivia hoch.
»Ich kann dich nicht davon abhalten, etwas Dummes zu versuchen«, sagte er. »Aber du musst wissen, dass es bedeutet, dass du kein Wasser bekommst.«
»Ich werde nichts versuchen«, gab Olivia zurück.
»Gut.« Greg stieg die Leiter hoch und hielt Olivia die Flasche hin. Sie zwang sich, langsam zu trinken. Greg wartete geduldig, während sie die gesamte Flasche kalten Wassers leer trank. »Willst du den Rest von Regina auch noch?«, fragte er.
Olivia schüttelte den Kopf. Die Chancen, dass es ihr gelänge, ihn von der Leiter zu treten, sodass er sich auf dem Boden den Schädel brach, standen extrem schlecht. Sie hätte es trotzdem versucht, konnte ihre Beine jedoch nicht bewegen.
Greg stieg wieder hinab. Er schleifte die Leiter aus dem Weg, setzte sich dann erneut auf seinen Stuhl. Er nahm ein Handy aus der Tasche, warf einen raschen Blick auf den Bildschirm, stopfte es anschließend wieder in die Tasche zurück.
»Tust du mir bitte den Gefallen und bist eine Weile still«, bat er. »Wenn du weinen oder wimmern möchtest, ist das in Ordnung, aber sprich nicht, okay?«
Olivia erwiderte nichts darauf.
Greg saß einfach nur da und starrte die Frauen in den Käfigen schweigend an. Immer mal wieder huschte die Spur eines Lächelns über seine Züge, doch sonst blieb sein Gesicht ausdruckslos.
Es fühlte sich an wie eine halbe Stunde, bevor er irgendetwas anderes tat, als zu starren. Er zog erneut sein Handy hervor, tippte darauf herum, als wolle er eine SMS versenden, und steckte es dann wieder ein, wirkte genervt.
Er blickte ein weiteres Mal zu Olivia hoch. »Als ich dir sagte, dass mir deine Musik gefallen hat, habe ich gelogen, doch es war kein völliger Blödsinn. Du hast wirklich ein bisschen Talent. Ein Superstar wärst du nie geworden, aber wenn ich echt Musikmanager wäre, hätte ich dich wahrscheinlich in einem größeren Laden unterbringen können. Wenn du dich besser fühlst, wenn du singst, mach das ruhig. Sing ein paar Songs. Unterhalte mich.«
Olivia würde auf keinen Fall für ihn singen. Da müsste er ihr schon die Stimmbänder mit den Zähnen rausreißen.
Sie wollte ihm sagen, er solle zur Hölle fahren, aber dann schüttelte sie einfach bloß sachte den Kopf.
Greg zeigte auf den Käfig neben ihrem. »Dann tu es für deine Nachbarin. Sie hatte in den vergangenen Tagen keinerlei Unterhaltung, abgesehen von dem Moment, als sie mir zugesehen hat, wie ich dich dort hineingesteckt habe. Sing ein Lied für sie. Fröhlich oder deprimierend, mir egal. Sing irgendwas.«
»Nein.«
»Wieso nicht? Gefällt dir die Akustik in diesem Schuppen nicht?« Greg lachte viel zu laut über seinen eigenen Witz. »Komm schon, sing für uns. Dauert nicht mehr lange, dann hast du keine Kraft mehr dafür. Schenk der Welt einen letzten Song.«
»Fahr zur Hölle.«
Greg erhob sich. »Ich wette, wenn ich dir einen Finger brechen würde, dann würdest du singen. Deine Stimme wäre ein paar Oktaven höher, aber du würdest singen.« Sein Blick wanderte zu Regina hinüber. »Hey, ist sie tot?«
Er ging zu ihr und pikste sie ins Bein. Regina reagierte nicht. Er stupste sie noch ein paar Mal mit dem Zeigefinger, bis sie endlich die Augen öffnete.
»Ah, okay, du bist noch da. Ich konnte nicht sehen, ob du atmest.«
Regina schloss die Augen wieder. Greg setzte sich hin.
»Ich werde dir keinen deiner Finger brechen«, sagte er zu Olivia. »Ich bin jetzt netter und tue so etwas nicht mehr. Ich werde dich nur beobachten. Wenn du singen willst, sing. Wenn nicht, dann lass es eben. Deine Entscheidung.«
Er lehnte sich zurück, streckte die Beine aus und starrte sie an.
Olivia wollte die Augen schließen, damit sie ihn nicht ansehen musste, doch sie hatte zu große Angst. Sie wollte nicht riskieren, dass sie die Augen öffnete und ihn direkt vor ihrem Käfig erblickte, während er gerade nach ihrem Fuß griff. Und einschlafen wollte sie auch nicht. Einzuschlafen, während er im Raum war, sollte eigentlich unmöglich sein, aber sie hatte kaum noch Energie, dafür jedoch das Gefühl, dass sie tatsächlich das Bewusstsein verlieren würde, wenn sie die Augen zu lange geschlossen hielt.
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