Dieser Roman ist ein fiktives Werk. Namen, Charaktere, Orte und Ereignisse entspringen der Fantasie der Autoren oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit zu tatsächlichen Ereignissen, Schauplätzen oder Personen, lebendig oder tot, ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Deutsche Erstausgabe Dezember 2020
Titel der Originalausgabe: My Pretties
Copyright © 2019 by Jeff Strand
Published by arrangement with the author
Copyright dieser Ausgabe © 2020 Savage Types Verlag, Berlin
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Cover-Artwork: Björn Craig
Käfig-Vektoren: macrovector / Freepik und Shutterstock
Lektorat/Korrektorat: im Verlag
E-Book: im Verlag
ISBN: 978-3-9819621-0-9
www.savage-types.de
Olivia sagte dem Publikum nicht, dass es ihr letzter Auftritt sein würde. Es waren nur wenige Leute da und diese waren wohl nicht unbedingt wegen ihr hier, also würde es ohnehin niemanden interessieren. Sie würde einfach versuchen, die beste Show zu liefern, all ihre Leidenschaft in diese letzten sechs Songs zu legen und dann von der Bühne gehen, um sich auf andere Bereiche ihres Lebens zu konzentrieren.
Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie sich nicht hätte vorstellen können, ihren Traum aufzugeben. Das war, bevor sie zehn Jahre lang in kleinen, oft beschissenen Läden mit klebrigen Fußböden aufgetreten war, für wenig bis gar kein Geld und das vor einem kaum interessierten Publikum. Es war kein feindseliges – immerhin war es ihr gelungen, ein Jahrzehnt lang zu spielen, ohne dass ihr jemand eine Bierflasche an den Kopf geworfen hatte –, doch häufig ein lustloses und gleichgültiges. Sie war lediglich dazu da, den Leuten die Zeit so lange zu vertreiben, bis endlich der Headliner auftrat.
Olivia liebte die Musik mehr als alles andere. Und endlich begann sie zu akzeptieren, dass sie womöglich gar nicht so gut darin war.
Sie war sicherlich keine talentlose Langweilerin. Die Leute flüchteten nicht mit den Händen über den Ohren aus dem Laden, aber sie rannten ihr auch nicht gerade den Merchandise-Stand ein, um Sticker und CDs zu kaufen. Manchmal sagten ihr einzelne Konzertbesucher, dass ihnen ihr Auftritt gefallen hatte, doch sie konnte nicht behaupten, sich in all den Jahren eine Fangemeinde aufgebaut zu haben. Es kam höchst selten vor, dass jemand extra wegen ihr vorbeikam. Groupies hatte sie jedenfalls keine, dabei würde sie sich inzwischen sogar über einen gruseligen Stalker-Typen freuen.
Die Erkenntnis, dass sie womöglich bestenfalls durchschnittlich talentiert war, kam ihr, nachdem sie wider besseren Wissens einen regulären Job angenommen hatte, bei dem sie spürte, dass sie ihn vielleicht nicht hassen würde. Und damit behielt sie recht. Es war ein anständig bezahlter, befriedigender Job mit freundlichen Kolleginnen – eigentlich ein Albtraum also für ihre Künstlerseele. Sie wollte noch immer eine erfolgreiche Musikerin sein, doch sie gierte nicht mehr danach. Obwohl sich Olivia nach der Bewunderung des Publikums sehnte, hatte sie durchaus auch etwas für betriebliche Beihilfe zur ärztlichen und zahnärztlichen Versorgung übrig.
Mit dem Gedanken, die Musik an den Nagel zu hängen, spielte sie nun schon eine ganze Weile. Den Ausschlag gab der Moment, als sie beschlossen hatte, keiner ihrer Kolleginnen etwas von ihrem heutigen Gig zu erzählen, weil sie sich Sorgen darüber machte, dass diese aus Höflichkeit gezwungen wären, zu lügen, wenn sie ihren Auftritt lobten.
Also war’s das jetzt.
Der Verantwortliche gab ihr ein Zeichen, und sie betrat mit ihrer akustischen Gitarre die Bühne, spielte sich förmlich die Seele aus dem Leib.
Sie hatte befürchtet, dass sie zu weinen anfangen würde, wenn das Set vorbei war, was eher unangenehm für die Zuschauer gewesen wäre, weil die schließlich nicht ahnen konnten, dass es für sie das Ende eine Ära bedeutete. Als es vorbei war jedoch, fühlte sie eine merkwürdige Ruhe, ganz so als wäre das alles nicht real. Sie war beinahe glücklich. Erleichtert.
Olivia verließ die Bühne unter verhaltenem Applaus. Sie holte sich ein Bier und lehnte sich gegen die hintere Wand, sammelte ihre Gedanken.
Ein Mann kam zu ihr herüber. Er wirkte ein paar Jahre älter, vielleicht Mitte dreißig. Er trug eine getönte Brille und besaß einen dieser gigantischen Hipster-Bärte. Am Hals trug er einen schmalen Verband. »Tolles Set«, sagte er.
»Danke.«
Er wechselte seine Bierflasche von der rechten in die linke Hand und streckte ihr erstere hin. »Greg.«
Sie schüttelte ihm die Hand. »Olivia.«
»Echt beeindruckend, was Sie da oben abgeliefert haben.«
»Danke. Hey, ich möchte echt nicht zickig sein, aber ich muss ein bisschen runterkommen und bin gerade nicht darauf aus, angemacht zu werden.«
Greg hob die Linke und tippte sich an den Ehering. »Das habe ich auch nicht vor.«
»Und verheiratet zu sein würde Sie davon abhalten?«
»Ich schwöre, ich versuche nicht, Sie in die Kiste zu kriegen. Alles, was ich will, ist eine Minute Ihrer Zeit. Wer ist Ihr Manager?«
»Ich habe keinen.«
»Echt jetzt?«
»Echt jetzt.«
»Dann bin ich ja froh, dass ich rübergekommen bin, um mit Ihnen zu sprechen. Ich habe keine Ahnung, welche Richtung Sie sich für Ihre Karriere vorstellen, aber ich könnte wetten, Sie haben höhere Ziele, als in diesem Laden zu spielen.«
Olivia zuckte die Achseln. Auch wenn Greg nett zu sein schien, er war genau einen Auftritt zu spät dran.
Er griff in seine hintere Hosentasche, holte seine Brieftasche hervor und zog eine Visitenkarte heraus. Darauf stand: Gregory Coffer – Künstlervertretung, dazu eine Telefonnummer und Webseitenadresse. In der oberen rechten Ecke waren ein paar Musiknoten abgebildet. Er steckte die Brieftasche zurück, während Olivia auf die Karte starrte.
»Sie vertreten Musiker?«, vergewisserte sie sich.
»Jap.«
Sie gab ihm die Karte zurück. »Danke. Das habe ich schon mehrfach durch. Nichts für ungut, aber mir haben schon diverse Manager das Blaue vom Himmel versprochen.«
»Ich verspreche Ihnen nicht das Blaue vom Himmel. Ich behaupte nicht, dass ich Sie in den Madison Square Garden bringen kann. Aber ich sage, dass ich Ihnen weit bessere Gigs als den hier verschaffen kann. Sie schreiben alle Ihre Songs selbst, richtig?«
Olivia nickte.
»Das merkt man. Wenn eine Künstlerin ihr eigenes Material spielt, die Songs, die sie selbst geschrieben hat, für die sie Leidenschaft empfindet, dann hat das eine ganz spezielle Energie. Sie haben zu viel Talent, um nur für ein Dutzend Leute zu spielen, die zu beschäftigt damit sind, auf ihre Telefone zu starren, und gar nicht wirklich mitbekommen, was Sie zu bieten haben. Sie sollten in besseren Läden als Vorband für größere Acts spielen. Und dann sollten andere Leute ihre Vorband und Sie der Hauptact sein. Das lässt sich nur in ganz kleinen Schritten vorantreiben, und es bedeutet eine Menge harter Arbeit, aber Sie haben etwas Besonderes. Ich kann Ihnen helfen.«
Olivia lachte. Sie konnte nicht anders.
Greg hob eine Braue. »Ich habe den Witz wohl nicht verstanden.«
»Ich höre auf«, erklärte sie. »Heute Abend war mein Abschiedsauftritt. Ich habe genug von diesem Geschäft.«
»Oh. Das bricht mir das Herz. Ich fühle mich geehrt, dass ich dabei sein durfte, und ich wünschte, ich wäre Ihnen früher begegnet. Ich habe das Gefühl, ich hätte einiges ändern können.«
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