Die letzte Sitzung der Verhandlungen sollte um Viertel nach neun beginnen, und beide Parteien hielten sich streng ans Protokoll. Die libyschen und die sowjetischen Delegationen, die jeweils aus etwa zwanzig Personen bestanden, trafen sich vor dem pinken Stuckgebäude und nach den üblichen herzlichen Begrüßungen gingen sie hinein und durch den Korridor zu der hohen Doppeltür, die dank ihrer gut geölten Angeln lautlos von zwei bewaffneten Wachen geöffnet werden konnte.
Etwa die Hälfte der beiden Delegationen war bereits in den Raum gegangen, als die ganze Gruppe schockiert innehielt und angesichts des Anblicks, der sich ihnen bot, wie angewurzelt stehen blieb.
Zehn identisch gekleidete Gestalten bildeten am anderen Ende des Raums einen großen Halbkreis. Sie trugen Kampfjacken und graue Baumwollhosen, die in Lederstiefeln steckten. Ihre Erscheinung wirkte durch die feinen Tarnnetze, die ihre Gesichter bedeckten, noch bedrohlicher. Die Netze wurden von schwarzen Baskenmützen an Ort und Stelle gehalten, auf denen polierte silberne Abzeichen prangten. Die Abzeichen hatten die Form eines Totenschädels unter dem die Buchstaben NSAA standen. Flankiert wurde das Ganze von blitzförmigen Runen.
Die Situation war unfassbar, da die libyschen Offiziere den Raum weniger als fünfzehn Minuten vor dem Eintreffen der beiden Delegationen draußen vor dem Gebäude überprüft hatten.
Die zehn Gestalten nahmen klassische Feuerpositionen ein – linkes Bein nach vorn, Knie gebeugt, die Griffe ihrer Maschinenpistolen oder Automatikgewehre fest an die Hüften gepresst. Zehn Mündungen waren auf die Delegierten gerichtet, die sich bereits im Raum befanden, und auch auf den Rest der Gruppe, der noch draußen im Korridor stand. Für ein paar Sekunden war die Szene wie eingefroren. Dann brach eine Welle aus Chaos und Panik los, als der Beschuss losging.
Die zehn Automatikwaffen feuerten systematisch auf den Eingang. Kugeln bohrten sich mit einem Getöse, das in dem geschlossenen Raum noch verstärkt wurde, durch Fleisch und Knochen.
Die Feuersalve dauerte weniger als eine Minute an, doch als sie aufhörte, waren alle bis auf sechs der sowjetischen und libyschen Delegierten entweder tot oder tödlich verwundet. Erst dann reagierten die libyschen Truppen und Sicherheitsoffiziere.
Der Attentätertrupp war außergewöhnlich diszipliniert und gut ausgebildet. Bei dem Feuergefecht – das etwa fünfzehn Minuten dauerte – wurden nur drei der Eindringlinge erwischt, während sie noch im Raum waren. Die restlichen entkamen durch den Hintereingang und nahmen innerhalb der Anlage Verteidigungsstellungen ein. Die folgende Auseinandersetzung forderte weitere zwanzig Leben. Am Ende waren alle zehn Mitglieder des Teams tot. Sie lagen zwischen ihren Opfern wie Teile eines bizarren Puzzles.
Um neun Uhr westeuropäischer Zeit am nächsten Morgen erhielt Reuters eine Nachricht per Telefon. Innerhalb weniger Minuten wurde der Text an die Medien auf der ganzen Welt weitergeleitet.
Die Botschaft lautete:
In den frühen Stunden des gestrigen Morgens befanden sich drei leichte Flugzeuge im Luftraum über dem militärischen Handelsmissionskomplex außerhalb von Tripoli, der Hauptstadt der Sozialistischen Volksrepublik Libyen. Sie flogen tief, um nicht auf dem Radar zu erscheinen, stellten ihre Motoren ab und glitten über die gut bewachte Anlage hinweg.
Eine Einheit der Nationalsozialistischen Aktionsarmee landete unentdeckt per Fallschirm auf dem Gelände des Komplexes.
Später fügte diese Einheit dem internationalen Faschismus einen schweren Schlag zu, indem sie eine große Anzahl Menschen exekutierte, die sich dafür einsetzten, die weitere Verbreitung der bösen kommunistischen Ideologie zu unterstützen, die nach wie vor eine Bedrohung für den Weltfrieden und die Stabilität darstellt.
Voller Stolz betrauern wir den Tod der Mitglieder dieser Einheit, der sie in Ausübung ihrer noblen Aufgabe ereilte. Die Einheit wurde aus der Elite unserer Ersten Division zusammengestellt.
Die Vergeltungsschläge für Verbrüderung oder Handel zwischen kommunistischen und nicht kommunistischen Ländern oder Individuen werden schnell ausgeführt. Wir werden den kommunistischen Teil vom Rest der freien Welt abschneiden.
Dies ist die amtliche Verlautbarung Nummer eins des Oberkommandos der NSAA.
Zu diesem Zeitpunkt kam es niemandem besonders bösartig vor, dass die Waffen, die die NSAA-Truppe benutzt hatte, alle aus russischer Herstellung stammten: sechs leichte Kalaschnikow-RPK-Maschinenpistolen und vier der kleinen Brüder der RPK – das leichte und sehr effektive AKM-Sturmgewehr. Tatsächlich war der Überfall in einer Welt, die durchaus an Terrorismus gewöhnt war, nur eine Schlagzeile unter vielen. Die Medien stellten die NSAA als eine kleine Gruppe faschistischer Fanatiker dar.
Knapp einen Monat nach dem Ereignis, das als der »Tripoli-Zwischenfall« bekannt wurde, veranstalteten fünf Mitglieder der britischen Kommunistenpartei ein Abendessen, um drei russische Parteimitglieder zu unterhalten, die im Zuge einer Mission zur Demonstration des guten Willens in London zu Besuch waren.
Das Abendessen wurde in einem Haus in der Nähe des Trafalgar Square abgehalten. Der Kaffee war gerade serviert worden, als ein Klingeln an der Vordertür den Gastgeber zwang, den Tisch zu verlassen. Alle Anwesenden hatten eine Menge Wodka getrunken, den die Russen mitgebracht hatten.
Die vier Männer, die vor der Tür standen, trugen paramilitärische Uniformen, die denen des Trupps beim Tripoli-Zwischenfall ähnelten.
Der Gastgeber – ein bekanntes und lautstarkes Mitglied der britischen Kommunistenpartei – wurde auf seiner eigenen Türschwelle erschossen. Die verbleibenden vier Briten und die drei Russen wurden innerhalb von Sekunden ausgeschaltet.
Die Mörder verschwanden und wurden nicht gefasst.
Während der Autopsien an diesen acht Opfern wurde klar, dass sie alle durch Schüsse aus einer Waffe russischer Herstellung getötet worden waren – vermutlich Automatikpistolen der Marke Makarow oder Stetschkin. Die Munition war eindeutig in der UdSSR hergestellt worden.
Die amtliche Verlautbarung Nummer zwei des Oberkommandos der NSAA wurde am nächsten Tag um neun Uhr westeuropäischer Zeit herausgegeben. Dieses Mal wurde verkündet, die Einheit habe zum »Adolf-Hitler-Kommando« gehört.
In den folgenden zwölf Monaten standen nicht weniger als dreißig »Zwischenfälle« mit Mehrfachermordungen auf Befehl des Oberkommandos der NSAA in den Schlagzeilen der Zeitungen.
In West-Berlin, Bonn, Paris, Washington, Rom, New York, London – zum zweiten Mal –, Madrid, Mailand und mehreren Städten im Nahen Osten wurden bekannte Kommunisten ermordet, zusammen mit Menschen, die offiziell oder nur freundschaftlich mit ihnen zu tun hatten. Unter den Opfern befanden sich drei britische und amerikanische Gewerkschafter.
Mitglieder der Mordanschlagtrupps verloren ebenfalls ihr Leben, aber nie wurden Mitglieder der Organisation gefangen genommen. In vier Fällen begingen die Männer der NSAA Selbstmord, um einer Verhaftung zu entgehen.
Alle Ermordungen erfolgten schnell und wurden mit sorgfältiger Planung und großer militärischer Präzision ausgeführt. Nach jedem Zwischenfall wurde die unvermeidliche amtliche Verlautbarung des Oberkommandos herausgegeben. Sie war stets in der gestelzten Sprache gehalten, die für alle Ideologien typisch ist. Jede Verlautbarung enthielt Einzelheiten über die angeblich beteiligte Einheit und die alten Namen, wie Erstes Eichmann-Kommando und Heinrich-Himmler-SS-Division, weckten schreckliche Erinnerungen an das berüchtigte Dritte Reich. Für die Polizei- und Sicherheitsdienste der Welt war das die einzige Konstante, der einzige Hinweis. Die Leichen der NSAA-Männer und -Frauen wiesen keinerlei Beweise auf. Es war, als wären sie plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht, voll ausgewachsen und in die NSAA hineingeboren. Nicht eine einzige Leiche konnte identifiziert werden. Experten der Spurensicherung plagten sich mit winzigen Hinweisen ab, Sicherheitsbehörden gingen ihren Spuren nach, Behörden für vermisste Personen gingen auf ähnliche Weise vor. Und alle Spuren endeten in einer Sackgasse.
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